Der Fluch der Maorifrau
hatte. Christian ging wieder in das Etablissement am Hafen. Wie oft hatte sie mit Mary hinter vorgehaltener Hand über dieses Haus der Frauen gesprochen!
Ach, Mary!, dachte Anna wehmütig. Liebe, gute Mary, stell dir bloß vor, ich bereue es nicht einmal, dass ich mich von John habe küssen lassen!
Sieh dich vor!, meinte sie plötzlich die Warnung ihrer Freundin aus einer anderen Welt zu vernehmen. Nimm dich bloß in Acht, dass kein Mensch jemals davon erfährt! Besonders Christian nicht.
Ach, Mary, seufzte Anna, ich schwöre dir, dass es niemals wieder geschehen wird!
Mit diesem Vorsatz schleppte Anna sich, immer noch am ganzen Körper zitternd, in ihr Bett im Kinderzimmer und sehnte sich zum ersten Mal in ihrem Leben schmerzhaft danach, dass ein Mann zu ihr kommen würde. John!, dachte sie voller Sehnsucht und stellte sich vor, wie seine zärtlichen Hände behutsam ihre Schenkel hinaufglitten.
Dunedin, 27. Dezember 2007
Sophie erschrak, als das Telefon klingelte. Es war die Rezeption. Ein Mister Franklin erwarte sie, teilte man ihr mit. John Franklin? Oh nein!
Sophie hatte diese Verabredung vollkommen vergessen. Als die Mitteilung kam, dass man sie unten in der Lobby erwarte, schlüpfte sie blitzschnell in eines ihrer neuen Kleider. Ihre langen blonden Haare band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, und sie zog hastig Sandalen an. Damit ihr blasses Gesicht ein wenig gesünder wirkte, benutzte sie Rouge und rundete das improvisierte Styling durch ein dezentes Lipgloss ab.
Sophie sah John Franklins hochgewachsene Gestalt schon von weitem. Es war ihr noch nicht aufgefallen, wie attraktiv der junge Anwalt mit seinen dunklen Locken, dem sommerlich gebräunten Teint, dem markanten Kinn und dem schönen Mund war.
»Hallo, Sophie«, begrüßte er sie mit seiner tiefen, warmen Stimme.
»Tag, Mister Franklin«, gab sie betont förmlich zurück. Etwas in ihr sträubte sich, ihn einfach John zu nennen.
»Haben Sie den ersten Schock einigermaßen überwunden?«, wollte er wissen, als sie zu seinem Wagen gingen.
Sophie versuchte zu lächeln. »Ehrlich?«
John nickte.
»Nein, ich bin in einem Albtraum gefangen, der mich sogar davon abhält, um meine Mutter zu trauern. Durch das ganze Drumherum habe ich noch nicht richtig begriffen, dass sie wirklich tot ist.«
»Ich habe alles für die Beerdigung arrangiert und noch einen Termin vor dem Jahreswechsel bekommen. Sie kann ausnahmsweise an einem Samstag, am neunundzwanzigsten Dezember, stattfinden, wenn es Ihnen recht ist.«
»Gut! Danke, dass Sie das für mich getan haben«, raunte sie heiser.
Schweigend fuhren sie durch Dunedin, nur ab und an unterbrochen von Johns Erklärungen zu sehenswerten Gebäuden.
»Schauen Sie, dort zu rechten Seite, das ist die First Church, eine neugotische Kirche für unsere ersten Presbyterianer, die 1874 fertiggestellt wurde, und zwar von Robert Lawson, unserem bekanntesten Architekten.«
Robert Lawson? War das nicht der Architekt, der das Haus der McDowells entworfen hatte? Das Haus, das Mary nicht mehr beziehen konnte. Ob es wohl noch existierte?
Sie verließen nun die Innenstadt und bogen auf die Straße nach St Kilda ein. Sophie wollte wissen, ob dies die Straße sei, auf der ihre Mutter tödlich verunglückt war. John schüttelte mit dem Kopf. »Es ist auf dem letzten Stück geschehen. Der Tahuna Road. Da fahren wir heute nicht hin. Oder wollen Sie das Haus sehen?«
»Nein, auf keinen Fall!«
Sophie zitterte am ganzen Körper, als John vor der Polizeiwache hielt. Mit weichen Knien betrat sie das Gebäude.
Als der wachhabende Polizist hörte, wer sie war, stand ihm das Mitgefühl ins Gesicht geschrieben. Nicht ohne ihr sein Beileid auszusprechen, gab er ihr Emmas Handtasche, die merkwürdigerweise unversehrt geblieben war. Sie sah den Polizisten fragend an, woraufhin er ihr erklärte: »Sie ist bei dem Aufprall vermutlich aus dem offenen Fenster vom Beifahrersitz geschleudert worden.«
»Mister Franklin sagte mir, es gibt einen Zeugen, der den Unfall beobachtet hat!«
»Ja, ein Mister Wilson, der ihr in seinem Wagen in einem großen Abstand folgte. Er hat beobachtet, wie Ihre Mutter plötzlich bremste, offensichtlich für einen Hund, ins Schleudern geriet und von der Straße abkam. Er konnte glücklicherweise noch rechtzeitig bremsen.«
»Ein Hund?«, wiederholte Sophie tonlos. »Sie hat für einen Hund gebremst?«
Ihr Gegenüber nickte.
»Haben Sie die Adresse von diesem Mann?«, wollte Sophie wissen.
»Ja,
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