Der Fluch der Maorifrau
behalten.«
Sophie merkte, wie ihr schwindlig wurde. McLean? Trinker? Hatte Tom etwas mit ihrer Familie zu tun? War er deshalb abgehauen? Und hatte er vielleicht Emmas Geschichte gestohlen? Es drehte sich alles in ihrem Kopf.
»Und was war mit seiner Mutter?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Die ist wohl gleich nach der Geburt mit einem anderen Kerl auf und davon. Er hat einiges hinter sich. Aber trotzdem: Er hat sich seit Weihnachten nicht mehr bei mir gemeldet. Das hat er noch nie gemacht. Wissen sie, was ich denke? Er hat geahnt, dass ich schwanger bin, und hat die Flucht ergriffen. Das ist meine größte Angst!«
»Das glaube ich nicht!«, erwiderte Sophie ganz mechanisch, während es in ihrem Kopf wild durcheinanderging. Schauen Sie mal ins Telefonbuch. So viele McLeans, hatte Judith gesagt. Sophie, du verrennst dich da in etwas, ermahnte sie sich selber. War sie tatsächlich so verrückt, wie Jan im Zorn behauptet hatte? Auf jeden Fall völlig besessen, dachte sie mit Schrecken, besessen von der Idee, Thomas Holden zu finden. So besessen, dass ich sogar in diesem beziehungsunfähigen Tom jenen Thomas Holden vermutete. Sie schüttelte sich. So weit ist es also schon mit mir gekommen! Ich muss aufpassen, sonst verliere ich wirklich den Verstand.
»Er hat nichts damit zu tun! Das wäre ein merkwürdiger Zufall«, murmelte sie in sich hinein.
»Sophie?«, hörte sie nun die Anwältin wie von Ferne fragen. »Haben Sie etwa gedacht, Tom wäre jener zweite Erbe, den ihre Mutter bedacht hat?«
Sophie nickte beschämt.
»Natürlich müssen Sie jeden Strohhalm ergreifen. Aber Tom? Nein, das ist absurd. Und wissen Sie auch, warum? Er bräuchte dringend Geld, um sich seinen Traum von einer eigenen Kanzlei zu erfüllen, und wenn er wüsste, dass er so viel geerbt hat, würde er doch nicht weglaufen, sondern sich uns sofort offenbaren. Und das Testament Ihrer Mutter befand sich nicht in einem Umschlag, sondern war in der Akte abgeheftet, in einer Klarsichthülle! Er hätte es auf einen Blick erkennen können.«
Sophie schluckte trocken. Es war ihr peinlich, dass sie überhaupt auf diesen dummen Einfall gekommen war. Aber trotzdem: Konnte es wirklich Zufall sein, dass er ausgerechnet McLean hieß? So wie ihre Mutter? McLeans gibt es hier bestimmt wie Sand am Meer, Sophie, sprach die innere Stimme erneut. Oh Gott, ich muss aufhören mit diesen dummen Spekulationen, ermahnte sich Sophie, sonst werde ich eines Tages wie eine Irre durch Dunedin rennen und jeden Passanten auf der George Street fragen, ob er nicht Thomas Holden ist.
»Störe ich? Ich habe euch schon überall gesucht«, unterbrach John Franklin ihr Grübeln.
»Nein, gar nicht. Ich wollte eh zurück«, erklärte Judith sofort, sprang auf und ließ die beiden allein.
»John? Emmas Testament. Sie sagten, sie hat ein neues aufgesetzt. Wo ist das erste geblieben, das meine Mutter bei Ihrem Vater aufgesetzt hat?«
Der Anwalt setzte sich dicht neben sie. So dicht, dass sich ihre Arme berührten.
»Ihre Mutter hat mich gebeten, ihr alle Aufzeichnungen und Unterlagen aus der Akte von damals zu überlassen. Auch das ungültige alte Testament. Ich fragte sie sogar noch nach dem Grund.«
»Und was hat sie geantwortet?«
»Sie hat wortwörtlich gesagt: Meine Tochter könnte sofort alles aus den Aufzeichnungen erfahren. Auch, wer Thomas Holden ist. Sie soll es aber nicht den schnöden Papieren entnehmen. Sie soll es nämlich nicht nur wissen, sondern fühlen. Es soll sie im Herzen erreichen! Und das, so sagte sie wörtlich, könne nur geschehen, wenn Sie ihre Geschichte in Ruhe lesen würden.«
»Typisch Emma! Das hat ihr bestimmt diese Lebensberaterin in Hamburg eingeredet. Wissen Sie eigentlich, dass in den Aufzeichnungen meiner Mutter der Teil fehlt, der ihre eigene Geschichte erzählt? Und der Name Holden nirgendwo auftaucht?«
»Nein. Wirklich? Ich habe Ihnen alles so übergeben, wie es mir Ihre Mutter überreicht hat.« John klang verunsichert.
»Mit fast hundert leeren Blättern?«
John zuckte mit den Achseln: »Ich habe nie einen Blick hineingeworfen. Vielleicht auch mit leeren Blättern!« Täuschte sie sich, oder klang seine Stimme unwirsch?
Sophie beschloss, die schöne Stimmung nicht zu verderben. Wortlos blickte sie auf das Meer, das jetzt leicht bewegt war. Wind war aufgekommen und spielte mit ihrem blonden Haar. Dank Judith' Strickjacke war ihr trotzdem noch warm. Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, und sie musste an diesen
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