Der Fluch der Schriftrollen
und
nahm ihr den schweren Korb ab.
Wir gingen eine Weile und
genossen die sommerliche Wärme und die frische Luft. Zuweilen blieben wir
stehen, um die Vögel zu beobachten oder den Duft einer Blume einzuatmen. »Es
ist so ruhig hier«, bemerkte Sara, als wir ein Stück gegangen waren. »Nicht wie
in der überfüllten Stadt, wo immer Lärm herrscht. Hier zwischen den Bäumen ist
es friedvoll.« Wir beschlossen, uns eine Weile im Schatten einer Pinie
niederzulassen, deren schwere Zweige tief herunterhingen und die ihre Arme weit
ausbreitete, um den Himmel zu umarmen. Als wir uns setzten, stellte ich fest,
daß wir uns außer Sichtweite des Hauses befanden.
»Saul hat jetzt einen
Schüler«, berichtete Sara mit gesenktem Blick. Sie saß auf der Seite, wobei sie
ihre kleinen Füße sittsam unter sich gezogen hatte. »Er ist der Sohn eines
armen Krämers, der es sich nicht leisten kann, ihn zu einem bekannteren Rabbi
zu schicken.« Ich erwiderte: »Alle berühmten Männer haben einmal bescheiden
angefangen. Die Zeit wird kommen, da Saul ebenso begehrt sein wird wie
Eleasar.«
Dann saßen wir eine Zeitlang
schweigend da. Ich fragte sie: »Wann ist die Hochzeit, Sara?«
»In zwei Monaten, denn bis
dahin kann Saul ein kleines Haus in der Stadt kaufen. Es ist ein recht
einfaches, aber immerhin wird es unser eigenes sein.«
Zwei Monate, dachte ich. Wird
es leichter sein, gegen diese Leidenschaft anzukämpfen, wenn sie erst eine
verheiratete Frau ist, oder macht es keinen Unterschied?
Als wir einigen Vögeln beim
Spiel zusahen, lachte Sara, so daß ihr Schleier zurückfiel. Der Anblick ihres
langen, schwarzen Haares, das ihr über Schultern und Brust fiel, schürte meine
Leidenschaft. »Sara«, sprach ich zu ihr, »es ist schwer für mich, so mit dir
zusammen zu sein.«
»Mir geht es nicht anders«,
erwiderte sie.
»Saul ist mein bester Freund
und mein Bruder. Ich kann ihn nicht hintergehen.«
Sie flüsterte: »Ich weiß.«
Und trotzdem konnte ich nicht
anders. Ich zitterte von dem Kampf, der in meinem Innern ausgetragen wurde,
versuchte verzweifelt, den Drang, der über mich kam, zu besiegen. Doch ich
konnte mich nicht mehr beherrschen. Einer plötzlichen Regung folgend, griff ich
mit beiden Händen nach ihrem Haar und küßte es. Tränen standen ihr in den
Augen. Plötzlich sagte sie mit gepreßter Stimme: »Saul wird nie etwas davon
erfahren.« Ich war wie vom Donner gerührt. »Aber meine Liebe«, entgegnete ich,
»du mußt doch als Jungfrau zu deinem Mann gehen. Das Gesetz ist ganz klar. Und
es steht ganz unmißverständlich geschrieben: ›Wenn eine Jungfrau mit einem Mann
verlobt ist, und ein anderer Mann trifft mit ihr innerhalb der Stadt zusammen
und schläft bei ihr, so sollt ihr die beiden zum Tor der Stadt hinausführen und
sie beide zu Tode steinigen.‹«
Ich sagte: »Das Gesetz ist
klar. Ich fürchte dabei nicht für mich selbst, sondern um deinetwillen, meine
Liebe.« Ihre Hand lag auf meiner, und alle Treue zu Saul war dahin. Sara saß
dicht neben mir; ihr kleiner Körper bebte; ihre Lippen lösten sich voneinander.
Da fuhr ich fort: »Im fünften
Buch Mose steht auch folgendes geschrieben: ›Wenn aber der Mann das verlobte
Mädchen auf freiem Felde antrifft, es mit Gewalt nimmt und bei ihr schläft, so
soll der Mann allein sterben, der bei ihr geschlafen hat.‹« Doch Sara
widersprach: »Nein, mein Geliebter! Wenn man uns ertappt, so soll man uns auch
beide bestrafen. Vergiß das Gesetz und die Stadt und das Land. Es führt kein
Weg darum herum. Wir müssen die Gelegenheit ergreifen. Wenn man uns entdeckt,
dann ist es nur gerecht. Wenn man uns nicht entdeckt, dann müssen wir auf ewig
mit unserem schlechten Gewissen leben.« Niemand sah uns an jenem Tag, und es
kam auch nie heraus. Für den Moment war es wie ein flüchtiger Blick ins
Paradies. Aber danach, am Abend und an den folgenden Tagen, trieb mich mein
schlechtes Gewissen an den Rand der Verzweiflung. Es gab auf der Welt kein
niedrigeres Geschöpf als mich, der ich ein verabscheuungswürdiger Betrüger war.
Ich hatte meine Frau Rebekka hintergangen, ich hatte meinem besten Freund Saul
die Treue gebrochen, und ich hatte Verrat an Gott begangen. Es gab für diese
Tat keine Entschuldigung, und ich suchte auch nicht danach. Ich hatte meinem
besten Freund gestohlen, was rechtmäßig ihm gehörte. Ich würde ihn nie mehr
ansehen können, ohne die tiefste Scham zu empfinden. Zweimal in meinem Leben
hatte ich nun die Thora beschmutzt. Wie konnte
Weitere Kostenlose Bücher