Der Fluch der Schriftrollen
die Beschneidung
vornahm und dazu die üblichen Worte sprach, galt meine Aufmerksamkeit allein
Sara.
Sie nannten den Knaben
Jonathan, nach dem ältesten Sohn des ersten Königs von Israel. Ich sollte sein
Onkel und er mein Neffe sein. Wir sprachen besondere Gebete für das
Neugeborene, und insgeheim beneidete ich Saul. Ich selbst hatte bis jetzt noch
keinen Sohn.
Ich sprach meinen Segen über
Jonathan und wünschte ihm ein langes Leben, und dann betete ich leise in meinem
Herzen, daß er bis zur Rückkehr des Messias am Leben bleiben möge, so daß er im
wahren Königreich Israel zum Mann heranwachsen würde.
Judy ließ Ben allein, um in
der Küche ein paar Hamburger zurechtzumachen. Sie verrichtete diese Arbeit mit
mechanischen Bewegungen, ohne zu denken, denn obgleich sich ihr Körper in
dieser hochmodernen, vollelektrischen Küche des zwanzigsten Jahrhunderts
befand, war sie im Geiste noch immer im alten Jerusalem. Ben saß regungslos an
seinem Schreibtisch. Nachdem er sich so in die Rolle vertieft hatte und so sehr
damit beschäftigt gewesen war, das Leben von David Ben Jona nachzuvollziehen,
ließ ihn der Schock darüber, am Ende der Handschriften angelangt zu sein,
regelrecht in der Luft hängen.
»Das kann nicht sein«, dachte
er, innerlich leer, »das kann noch nicht alles sein.«
Ben legte
seine Hände mit ausgestreckten Fingern flach auf die Fotografien. Völlig
regungslos saß er da und spürte die Worte David Ben Jonas unter seinen
Handflächen, spürte den heißen Sommer in Jerusalem und den Liebesakt unter einer
Aleppokiefer. Er spürte den Lärm und das Gedränge auf Jerusalems Markt; roch
den aus Kapernaum, Magdala und Bethesda herbeigeschafften Fisch; fühlte die
Seidenstoffe aus Damaskus, das Leinen aus Ägypten, das Elfenbein aus Indien. Er
spürte die exotischen Wohlgerüche, das Geschrei der Straßenhändler und
Kaufleute, spürte das Klirren der römischen Schwerter in der Scheide, als die
Soldaten vorübergingen, spürte den Staub und die Tiere und die Hitze und den
Schweiß… »O Gott!« rief Ben und sprang auf.
Im nächsten Augenblick war
Judy bei ihm und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Ben, was ist
los?« Er starrte auf seine zitternden Fingerspitzen. »O Gott«, flüsterte er
wieder. »Was ist geschehen?«
»David…«, begann er. »David
war…«
Sie legte ihm einen Arm um
die Schultern. »Komm, Ben, du bist erschöpft. In ein paar Minuten bin ich mit
dem Essen fertig, dann können wir uns entspannen. Wie war’s mit einem Glas Wein
in der Zwischenzeit?«
Sie führte ihn ins Wohnzimmer
über den purpurfarbenen Fleck auf dem Vorleger hinüber zur Couch. Sowie er sich
gesetzt hatte, war Poppäa auf seinem Schoß. Sie schnurrte und rieb ihr Gesicht
an seiner Brust. Doch Ben schenkte der verführerischen Katze keine Beachtung.
Statt dessen legte er seinen Kopf auf der Couch zurück und starrte mit offenem
Mund an die Decke.
Was war ihm da gerade im
Arbeitszimmer passiert? Es war etwas Neues, etwas anderes. Es war, als ob
David… »Was willst du auf deinen Hamburger?« erkundigte sich Judy und streckte
den Kopf aus der Küchentür.
»Was?« Er riß den Kopf hoch.
»Hmm… Senf…« Ein kurzes Rumoren war zu hören, und im nächsten Augenblick trat
Judy mit einem schweren Tablett aus der Küche. Sie stellte es vor ihn auf den
Kaffeetisch, ließ eine Serviette in seinen Schoß fallen und riß eine riesige Tüte
Kartoffelchips auf. Die Hamburger sahen dick und saftig aus. »Los jetzt, du
hast mir versprochen, zu essen.«
»Ach ja…?« Er schubste
Poppäas Nase sanft von seinem Teller weg und führte den Hamburger zum Mund.
Was hatte David dort im
Arbeitszimmer versucht zu tun? Sie aßen eine Weile schweigend, wobei die
Eintönigkeit nur durch das gelegentliche Krachen eines Kartoffelchips
durchbrochen wurde, bis Ben plötzlich sagte: »Was mir Kopfzerbrechen bereitet…
David ist noch immer hier.«
»Warum macht dir das Kopfzerbrechen?«
»Ich dachte, er würde
verschwinden, wenn ich nichts mehr zu übersetzen hätte, aber ich glaube fast,
ich habe mich getäuscht. Was ist, wenn er mich nun bis ans Ende meiner Tage
verfolgt, weil er nicht weiß, daß die letzte Rolle niemals kommen wird?« Sie
aßen die Hamburger zu Ende, wischten sich Hände und Mund ab und lehnten sich
mit dem Wein zurück. Poppäa schnupperte zwischen den Krümeln herum.
»Sie ist so ein kleines
Miststück«, bemerkte Ben. »Tut so, als wäre sie erstklassig und wählerisch,
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