Der Fluch der Schriftrollen
widerfuhr. Ich wollte sie küssen, aber ein kleiner Rest
Vernunft war mir noch verblieben. Im fünften Buch Mose heißt es, daß ein frisch
vermählter Mann ein Jahr lang mit seinem Weib fröhlich sein soll. Ich befolgte
dieses Gebot nicht vollständig. Und dabei war ich doch ein Mann des Gesetzes.
Wir unterhielten uns leise
oben auf dem Hügel, und als eine leichte Brise Saras Schleier ein wenig lüftete
und ihr Haar freigab, meinte ich zu hören, wie mein Herz laut aufschrie.
Ich empfand große Zuneigung
für Saul. In meinen acht Jahren in Jerusalem war Saul mein Bruder und mein
Freund gewesen. Es gab nichts, was ich im Angesicht Gottes nicht für ihn getan
hätte. So war es aus keinem anderen als aus diesem Grund, daß ich es unterließ,
mich Sara zu nähern. Meine Liebe zu Saul verlieh mir die Kraft, um meiner Liebe
zu seiner Verlobten nicht nachzugeben. Ich bin ein Mann der Treue.
Ich bin auch ein Mann des
Gesetzes, und doch war es seltsamerweise nicht das Gesetz, das mich an diesem
Tag im Zaume hielt. Ich wußte, daß die Strafe für einen Mann, der bei der
Verlobten eines anderen Mannes schläft, die Steinigung war – zu Tode steinigen.
Weiterhin wußte ich, daß auch ein Mädchen zu Tode gesteinigt werden konnte,
wenn es nicht als Jungfrau zu ihrem Manne ging und er dies in der
Hochzeitsnacht entdeckte. Doch so streng und abschreckend die Gesetze des
fünften Buches Mose auch sind, es war meine Freundschaft mit Saul, die mir an
diesem Tage Willenskraft gab.
In den darauffolgenden Tagen
war ich ein anderer Mensch. Als Salmonides sich bei mir mit noch größeren
Gewinnen meldete und verkündete, die Götter seien mir geneigt, trafen seine
Worte auf die Ohren eines Tauben. In meiner Brust tobte ein Schmerz, der sich
durch nichts lindern ließ. Meine Liebe zu Sara nahm mit jeder Stunde zu.
Rebekka und ich besuchten
auch weiterhin unsere Freunde im Hause von Miriam in der Oberstadt, und weil
sie fromme Juden waren, strengte ich mich sehr an, zuvorkommend zu sein. Ich
habe bisher noch nicht von Jakobus gesprochen, den du ja auch kennst. Jetzt
will ich von ihm berichten.
Jakobus war ein Nazaräer, ein
Mann von felsenfesten Überzeugungen und eisernen Gelübden. Neben Simon war er
einer der Führer der Armen. Es waren arbeitsreiche Tage für sie, da sie darauf
bedacht waren, ihre Anhängerschaft zu vergrößern, bevor der Meister
wiederkehrte. Jakobus pflegte zu sagen: »Wir wurden angewiesen, auszuziehen, um
die verlorenen Schafe Israels zu suchen und ihnen zu verkünden, daß das
Königreich nahe.« Deshalb zogen Simon und seine Anhänger durch das ganze Land,
predigten den Neuen Bund und verkündeten die Rückkehr unseres Königs. Es würde
nicht mehr lange dauern, bis sich die vor langer Zeit gemachten Prophezeiungen
erfüllten und Israel zum rechtmäßigen Herrscher der Welt erhoben würde. Für
dieses Ereignis mußten alle Juden vorbereitet sein, und es war die Aufgabe von
Simon und Jakobus, die Missionarstätigkeit zu organisieren und dafür Sorge zu
tragen, daß die Botschaft jeden Bürger Israels erreichte. Einst fragte ich ihn:
»Wohin geht ihr, Brüder?« Und Jakobus antwortete: »Wir sind verpflichtet, in
jede Stadt Israels zu gehen und mit jedem Juden dort zu sprechen. Wir erhielten
Anweisung, den Heiden aus dem Weg zu gehen und die Städte der Samariter nicht
zu betreten. Denn das nahende Königreich ist allein für Juden.«
Um diesen Punkt entspann sich
ein heftiger Meinungsstreit. Simon und Jakobus erhielten Briefe von ihren
Brüdern in Antiochia, die zu Juden predigten, und diese erzählten von einem
anderen Mann, einem gewissen Saul von Tarsus, der behauptete, mit dem Meister
auf der Straße nach Damaskus gesprochen und die Anweisung erhalten zu haben,
auch zu Heiden zu predigen. Doch Simon und Jakobus, welche über alle
Angelegenheiten der Armen wachten, rieten ihnen strikt davon ab, sich unter die
Unbeschnittenen zu begeben. Denn sofern sie nicht Juden würden wie wir – das
heißt, wenn sie nicht das Ritual der Beschneidung über sich ergehen ließen –
und versprächen, die Thora heiligzuhalten, könnten die Heiden dem Neuen Bund
nicht beitreten. Eine zweite Unstimmigkeit erwuchs ebenfalls aus diesem Punkt,
ein Streit, der zunächst recht harmlos begann, der aber in späteren Jahren
immer größere Ausmaße annahm. Wie du weißt, war Simon der beste Freund des
Meisters und sein erster Jünger gewesen. Du weißt auch, daß Jakobus des
Meisters Bruder war. Daraus entwickelte sich eine
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