Der Fluch der Schriftrollen
Samstag und Sonntag über hatte er am
alexandrinischen Kodex gearbeitet und Randall dann einen ausführlichen
Tätigkeitsbericht geschickt.
Seine äußere Ruhe und seine
Unvoreingenommenheit als Wissenschaftler wurden jedoch jäh erschüttert, als er
am Montagnachmittag den Briefkasten öffnete und ihm daraus ein leicht
beschädigter Briefumschlag mit israelischen Marken in die Hände fiel. Mit Überraschung
stellte er fest, daß seine Handflächen schwitzten, als er seine beinahe schon
rituellen Vorbereitungen für die Arbeit traf. »Ich bin aufgeregter, als ich
dachte«, sagte Ben zu sich selbst. Dann lachte er leise. Er wußte, weshalb.
»Niemand hat vor Tutenchamuns Grab von Howard Carter gehört! Und noch hat
niemand von Benjamin Messer gehört!«
Er ging durch das Zimmer und
löschte alle Lichter, außer seiner Schreibtischlampe, so konnte er sich am
besten auf seine Arbeit konzentrieren. Dann legte er ein paar Platten von Bach
und Chopin auf und drehte den Ton ganz leise. Er schenkte sich ein Glas Wein
ein, vergewisserte sich, daß sich der Pfeifentabak in Reichweite befand, und
nahm seinen Platz am Schreibtisch ein.
Er wischte
sich die Handflächen an den Hosen ab. Ben war allgemein für sein unbekümmertes
Wesen und seinen Sinn für Humor bekannt. Er lächelte viel und lachte oft und
versuchte, die Dinge nicht zu ernst zu nehmen. Wenn jedoch seine Leidenschaft
für alte Manuskripte ins Spiel kam, so wurde er schnell ernst. Er achtete die
unbekannten Männer, über deren Wörter und Sätze er ganze Tage in mühevoller
Arbeit zubrachte. Er ehrte ihre Ideale, ihre Hingabe und die Frömmigkeit, mit
der sie ihre heiligen Worte niedergeschrieben hatten. Ben schätzte diese gesichts-
und namenlosen Männer und hatte sogar ein wenig Ehrfurcht vor ihnen. Meistens
stimmte er nicht mit ihren religiösen Anschauungen und ihrem nationalen Eifer
überein. Ihre Überzeugungen waren nicht die seinen, und trotzdem bewunderte er
sie wegen ihrer Inbrunst und Standhaftigkeit. Und jedesmal, wenn er sich einen
neuen Text vornahm, verweilte er einen Augenblick, um sich des längst
vergessenen Mannes zu erinnern, der ihn geschrieben hatte.
Diesmal waren es vier Fotos,
die sich in einem versiegelten Innenumschlag befanden, an dem ein fehlerhaft
getippter Brief von John Weatherby festgeklammert war. Dieses Schreiben las Ben
zuerst. Der alte Archäologe berichtete in knappen Sätzen über die sich
ausbreitende Neuigkeit von dem Fund und über die Aufregung, die dadurch
entstanden war. Er sprach von vier weiteren Tonkrügen, die gefunden worden
seien, von dem beklagenswerten Zustand von zweien der Schriftrollen und von der
Hektik, mit der er zwischen Jerusalem und der Ausgrabungsstätte hin- und
herhetzte. Weatherbys Brief endete mit den Worten: »Es tat uns leid, als wir
die Rolle Nummer vier so stark beschädigt vorfanden. Und als wir feststellten,
daß Rolle Nummer drei wegen eines Sprungs im Tonkrug nur noch als Teerklumpen
geborgen werden konnte, waren wir alle sicher, daß der Fluch Mose auf uns
lastete!«
Ben lächelte schmerzlich bei
diesen letzten Zeilen. Es gab nicht wenige Leute, insbesondere Journalisten,
die den Fluch des alten David Ben Jona begierig aufgreifen und zur Sensation
hochjubeln würden. Man erinnere sich nur, was sie aus dem Fluch Tutenchamuns
gemacht hatten! Er schüttelte den Kopf. Der Fluch Mose, freilich! Und was wird
geschehen, wenn Weatherby mein Telegramm erhält? Dann wird jeder erfahren, wann
David seine Beichte abgefaßt hat, und wenn das erst einmal durchsickert,
wird es keine Ruhe mehr geben.
Ben malte sich in Gedanken
die Schlagzeile aus: SCHRIFTROLLE AUS DER ZEIT JESU IN GALILÄA gefunden. Das wäre genug, um einen
weltweiten Rummel auszulösen. Sag nur »erstes Jahrhundert« und »Galiläa«, und
du hast rings um dich her eine Massenhysterie. Und wenn man dann noch einen
antiken Fluch ins Spiel bringt… Schließlich löste Ben die Klammer und ließ die
vier Fotos vorsichtig herausgleiten. An jedem von ihnen haftete in der rechten
oberen Ecke eine Zahl, um auf die Reihenfolge hinzuweisen. Sie waren in der
Abfolge aufeinandergelegt, in der sie gelesen werden sollten. Er steckte die
anderen drei zurück und nahm sich das erste vor. Es zeigte zerfetzten Papyrus,
der vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen worden war. Sofort erkannte er
David Ben Jonas Handschrift. Dieses Bruchstück maß sechzehn auf zwanzig
Zentimeter, befand sich in relativ gutem Zustand und war in
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