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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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»Ich muß wirklich gehen, Stan. Ich ruf dich an. Okay?«
    »Klar doch. Bis bald.«
    Jetzt, am späten Nachmittag,
war der Andrang auf den Fluren ziemlich groß, und so mußte Ben sich durch die
Menschenmenge zum Ausgang kämpfen. Als er nach draußen in die untergehende
Sonne trat, sah er Judy mit schnellem Schritt in Richtung Bibliothek eilen. Er
schaute auf die Uhr. Vier Uhr fünfundzwanzig. Er hatte noch etwas Zeit.
    »Judy!« rief er, während er
seinen Schritt beschleunigte, um sie einzuholen.
    Sie schien ihn nicht zu
hören. Für eine Person ihrer Größe lief sie bemerkenswert schnell, wobei ihr
schwarzes Haar hinter ihr im Wind wehte. »Judy!«
    Endlich schaute sie über ihre
Schulter. Sie blieb stehen und drehte sich nach ihm um.
    »Ich vergaß, Ihnen heute im
Unterricht dies hier zu geben«, sagte er, während er ungeschickt an dem
Verschluß seiner Aktentasche herumnestelte. »Sie haben es gestern abend
liegengelassen.« Sie schaute ihm ins Gesicht.
    »Hier.« Er zog den großen
braunen Umschlag hervor und reichte ihn ihr. Sie nahm ihn entgegen, ohne ihren
Blick abzuwenden. »Oh, der Kodex. Vielen Dank.« Ben bedachte sie mit einem
halbherzigen Lächeln. Ich werd ihr nichts sagen, dachte er bei sich. Wir lassen
es einfach bei gestern abend bewenden und bringen nie wieder die Sprache auf
die Schriftrollen. »Ich hätte ihn gerne in etwa einer Woche zurück, wenn Sie
nichts dagegen haben. Die letzten paar Zeilen sind verdammt schwer zu
übersetzen, und ich habe mich auf einen bestimmten Abgabetermin festgelegt.«
    »Oh, natürlich.« Sie schien
unschlüssig. »Dr. Messer, darf ich etwas sagen?«
    Er steckte sich seine kalte
Pfeife in den Mund. »Nur zu.«
    »Ich teile nicht Ihre
Ansicht, daß Jiddisch im Aussterben begriffen ist. Vielleicht wird es heute
weniger gebraucht, und vielleicht hat sich sein Stellenwert im Leben der Juden
geändert, aber ich denke nicht, daß es ausstirbt.«
    Ben blickte das Mädchen
erstaunt an und lächelte. »Diese Meinung kann man natürlich mit guten
Argumenten vertreten. Wahrscheinlich könnte uns nur eine weltweite Studie die
richtige Antwort darauf geben, und bis es soweit ist, können wir nur
Vermutungen anstellen. Ihre Einschätzung ist ebenso gut wie meine.«
    Sie nickte. »Ich bin mit
Jiddisch aufgewachsen. Es war die einzige Sprache, die meine Mutter wirklich
beherrschte. Als ich klein war, sprachen wir zu Hause ausschließlich Jiddisch.
Vielleicht hat es für mich deshalb so hohen Wert. Nun ja, jedenfalls vielen
Dank, daß Sie an den Kodex gedacht haben.«
    »Gewiß.« Ben beobachtete sie,
wie sie ihm zuwinkte und sich zum Gehen wandte. Dann, einer plötzlichen Regung
folgend, sagte er: »Ach übrigens…«
    »Ja?«
    »Ich habe anscheinend eine
neue Rolle aus Magdala erhalten.«
     
     
    Der Wein in seinem Glas war
warm und bitter geworden. Bachs Toccata und Fuge in d-moll kam aus dem
Plattenspieler wie eine Folge mißklingender Töne. Der Qualm aus seiner Pfeife
hing in dicken, ungesunden Rauchwolken in der Luft. Ben stand ungeduldig auf,
stellte den Plattenspieler ab, entleerte seine Pfeife in den Aschenbecher und
kippte den Wein in die Spüle. Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und
setzte sich wieder.
    Der Nachgeschmack von einem
Pastrami-Sandwich lag ihm noch auf der Zunge und erinnerte ihn daran, daß er
sein Abendessen weniger genossen als in sich hineingestopft hatte, wie eine
lästige Pflicht, die er sich vom Hals schaffen sollte. Genauso hatte er es auch
empfunden. Ben war hungrig gewesen, hatte sich aber auch nicht weiter mit Essen
abgeben wollen. Und jetzt, mit einem Klumpen im Magen und einem schlechten
Geschmack im Mund, reute es ihn, daß er so hastig gewesen war.
    Wieder blickte er im Schein
der Schreibtischlampe auf die ihm schon vertraute fehlerhafte Maschinenschrift
Dr. Weatherbys. Der Begleitbrief bestand aus einem kurzen Kommentar zu Rolle
Nummer vier, die er in schlechtem Zustand gefunden hatte und die man unter
Infrarotlicht hatte fotografieren müssen, um die Schrift sichtbar zu machen. Er
erwähnte auch, wie schon zuvor am Telefon, Rolle Nummer drei, die wegen eines
Sprunges im Tonkrug unbrauchbar geworden war. Das war alles.
    Ben schüttelte traurig den
Kopf, als er die beiden vor ihm liegenden Fotos betrachtete. Diese Übersetzung
würde wirklich eine Herausforderung darstellen. Die Ecken sahen aus, als seien
wilde Hunde darüber hergefallen. Und in der Mitte erinnerte die Rolle an
Schweizer Käse. Ganze Absätze waren völlig

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