Der Fluch der Schriftrollen
nach.«
»Willst du herüberkommen?«
»Nicht heute abend. Ich bin
mittendrin und will es zu Ende bringen.«
»Natürlich«, murmelte sie,
»ich verstehe. Trotzdem, wenn du Hunger bekommst oder dich einsam fühlst… Ich
bin hier.«
»Danke.« Er wollte ihr eben
auf Wiedersehen sagen, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders
und fragte: »Angie?«
»Ja, Liebling.«
»Willst du nicht wissen,
wovon die vierte Rolle handelt?« Am anderen Ende der Leitung herrschte
Stillschweigen. »Nun ja, egal«, fuhr er fort, »sie ist sowieso ziemlich langweilig,
erzählt nur von David Ben Jonas Lehrzeit in Jerusalem. Gute Nacht, Angie.«
Mit dem Zeigefinger drückte
er die Gabel nach unten, während er gleichzeitig horchte, um sicherzugehen, daß
die Verbindung unterbrochen war. Und dann tat Benjamin Messer etwas, was er nie
zuvor in seinem Leben getan hatte: Er legte den Hörer neben die Gabel.
… Schriftgelehrte. Wir
wußten, daß es uns Jahre harter Arbeit und viele Opfer abverlangen würde und
daß nur eine Handvoll ihr Ziel je erreichten. Saul und ich wählten Rabbi
Eleasar… den größten Lehrer in Judäa… (Tinte verwischt)… sein Ruhm. Wir
strebten nach dem Allerhöchsten. Wir wußten, daß wir, sollten wir die Lehrzeit
bei ihm durchstehen, Männer von hohem Ansehen sein würden.
Doch so viele junge Männer
traten an ihn heran, und so wenige wurden auserwählt. Saul und ich waren fest
entschlossen. Es würde meiner Familie zu größter Ehre gereichen, sollte es mir
gelingen, ein Schüler des großen Eleasar zu werden. Ich war voller Furcht zu
versagen. Ich kannte viele Knaben, die an Eleasar herangetreten und abgelehnt
worden waren. Doch Saul war zuversichtlich. Saul… stolzer und fröhlicher Knabe
mit lachenden Augen und… Mund. Er versicherte mir tagtäglich, daß wir die
besten Schüler von Rabbi Joseph gewesen seien. Und das ermutigte mich. Wenn ich
indessen hörte, wie viele Eleasar um Unterweisung angingen, wurde ich wieder
ganz niedergeschlagen. Aus diesem Grund… (große Lücke im Papyrus) … mit
Saul. Zum Passah-Fest kamen wir… (Handschrift unleserlich) … und ich lag
ängstlich bis spät in die Nacht hinein wach.
Aber Saul schien sich nicht
zu fürchten. Er hatte auch viele Freunde, denn er besaß die Fähigkeit, lustige
Geschichten zu erzählen und die Leute zum Lachen zu bringen. Ich bewunderte
Sauls geistreichen Witz und sein sorgloses Wesen, und ich wünschte mir oft,
ebenso gesellig und freimütig zu sein wie er und schnell Freunde zu gewinnen.
Wir gingen oft zusammen… (Papyrus zerrissen)… und beteten gemeinsam im
Tempel. Saul und ich waren uns näher, als meine Brüder und ich es gewesen
waren, und wir halfen uns gegenseitig, wo wir konnten. In Jerusalem war er mein
einziger Freund, und ich liebte ihn innig. Hätte sich die Gelegenheit je
geboten, ich hätte mit Freuden mein Leben für Saul hingegeben.
Als er am Ende des ersten
Fotos angelangt war, nahm Benjamin seine Brille ab, legte sie sachte auf die
Schreibtischplatte und rieb sich die Augen. Dann starrte er auf die aramäische
Handschrift, die unter dem Infrarotlicht nur undeutlich hervorgekommen war, und
fühlte sich plötzlich um Jahre zurückversetzt, an eine Schule in New York City,
die er besucht hatte und wo er eng mit einem Jungen namens Salomon Liebowitz
befreundet gewesen war…
Die Jeschiwa, die
Talmudschule, hatte sich im Stadtteil Brooklyn befunden. Er war vierzehn Jahre
alt gewesen, als er sich, beladen mit Büchern in Hebräisch und Jiddisch, mühsam
einen Weg durch den matschigen Schnee bahnte. Er und Salomon machten immer
einen weiten Bogen, um zur Jeschiwa zu gelangen, denn der direkte Weg führte
durch ein katholisches Nachbarviertel, wo ihnen immer einige rüpelhafte
Jugendliche auflauerten, um sie zu schikanieren. Einmal hatten die
grobschlächtigen Söhne polnischer Einwanderer Bens Samtkäppchen geschnappt, es
auf den Boden geworfen und waren darauf herumgetrampelt. Und dann hatten sie
über seine Tränen gelacht.
Aber es waren keine Tränen
der Trauer oder der Wut gewesen, sondern Tränen der Ohnmacht. Woher hätten die
Gojim, die Nichtjuden, auch wissen sollen, wie sehr Ben sich wünschte, das Haus
ohne sein Käppchen verlassen zu können, und wie sehr er sich danach sehnte, in
die öffentliche Schule zu gehen, wo er wie andere Kinder hätte sein können.
Und einmal hatte Salomon, der
so viel größer und stämmiger war als Ben, Ben verteidigt und den halbstarken
Gojim die
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