Der Fluch der Schriftrollen
verschwunden, viele Wörter bis zur
Unkenntlichkeit entstellt.
Ben fühlte sich persönlich
betrogen, als sei ihm dies absichtlich angetan worden. Zuerst der
unwiederbringliche Verlust der dritten Rolle und nun noch dies.
Wütend schlug er mit der
Faust auf den Schreibtisch. Irgendwo im Halbdunkel lauerte Poppäa Sabina, die
den ganzen Tag geschlafen hatte und nun zu ihren nächtlichen Runden aufbrach.
Sie wußte, wann ihr Herrchen seine Ruhe brauchte, und hielt sich daher in
diskreter Entfernung zu ihm. Der Lärm von dem Faustschlag scheuchte sie ins
Schlafzimmer, wo sie eine einsame Nachtwache antrat. »David Ben Jona«, murmelte
Ben über dem Foto, »wenn du willst, daß ich deine Worte lese, wenn du mich dazu
auserwählt hast, die Beichte zu lesen, die dein Sohn nicht hatte lesen können,
dann mache es mir doch nicht gar so schwer.«
Er stand auf und ging in die
Küche, um sich ein frisches Glas Wein zu holen, kam dann zurück zum
Schreibtisch, zündete seine Pfeife wieder an und machte sich an die mühsame
Übersetzung von Rolle Nummer vier.
Und so kam es, daß ich, David
Ben Jona, im Alter von vierzehn Jahren mein Studium bei Rabbi Joseph Ben Simon
vollendete. Jene drei Jahre waren eine gute Zeit gewesen, und ich werde stets
in liebevollem Andenken an diese Tage der Jugend und Unschuld zurückblicken.
Saul blieb mein innigster Freund, und so kam es, daß er und ich zusammen bei
Rabbi Eleasar Ben Azariah in die Lehre gehen wollten, der damals einer der
berühmtesten und erhabensten Lehrer war.
Dieser Teil war überraschend
gut gegangen. Doch nach genauerer Untersuchung war er offensichtlich von beiden
Fotos der leserlichste Abschnitt. Der Rest würde nicht so einfach werden. An
den Rändern seiner Übersetzung machte Ben einige Anmerkungen: Rolle drei
offensichtlich Beschreibung von frühem Schulbesuch und ersten Jahren in
Jerusalem. David unter der Anleitung von Rabbi Joseph, wahrscheinlich zusammen
mit mehreren anderen Jungen. Gegenstand der Unterweisung kann nur vermutet
werden – wahrscheinlich Aufsagen der Thora, Gedächtnistraining, Gebete etc.
Bezweifle, daß er irgendeine Deutung der Gebote besaß. Wahrscheinlich die
übliche Ausbildung der Jugend aus der Mittelschicht. Freund Saul wahrscheinlich
schon in Rolle drei erwähnt und Umstände ihrer Begegnung geschildert.
Ben ließ seinen
Kugelschreiber sinken und rieb sich die Augen. Der Verlust der dritten Rolle
war in der Tat sehr ärgerlich. Und die Lücken, die in dieser hier überall
auftauchten, konnten einen ebenfalls zur Verzweiflung bringen. Er war
ungehalten und gereizt. Er stand auf und trat zum Fenster. Irgend etwas störte
ihn. Sonst war er ein Mann, der sich an die Arbeit setzte und sofort damit
begann, aber heute abend war daran nicht zu denken. Er konnte Davids Worte
nicht lesen, ohne unruhig und nervös zu werden. Dann kam ihm Judy Golden in den
Sinn. Warum war er so vorschnell mit der Nachricht von der vierten Rolle
herausgeplatzt, besonders nachdem er sich geschworen hatte, ihr nichts davon zu
erzählen? Gewiß, sie hatte ihn nicht dazu gedrängt. Er war ja sogar derjenige
gewesen, der ihr nachgerannt war, um sie für eine Minute zurückzuhalten. Warum
hatte er ihr aber schließlich, als sie sich schon zum Gehen wandte, doch
gesagt, daß er eine weitere Rolle erhalten hatte? Ben ging eine Zeitlang mit
leicht hinkendem Schritt im Zimmer auf und ab. Auch etwas anderes beschäftigte
ihn. Er wurde viel zu schnell ungeduldig, wenn er auf das Eintreffen künftiger
Rollen wartete. Es regte ihn auf, daß es so lange dauerte, bis sie zu ihm
gelangten. Und er beneidete John Weatherby darum, auf dem Schauplatz der
Ereignisse zu sein und die Tonkrüge gerade so zu finden, wie David Ben Jona sie
hinterlassen hatte.
Bens Überlegungen wurden
durch das Klingeln des Telefons unterbrochen, das er zuerst nicht beachten
wollte. Dann nahm er aber doch ab.
»Hallo, Liebling«, ertönte
Angies sanfte Stimme. »Störe ich dich bei irgend etwas?«
»Ich war gerade mitten in
einer neuen Übersetzung.«
»Oh!«
»Ich habe heute die vierte
Rolle von Weatherby erhalten. Es ist eine besonders schwere.«
Angie lachte kurz auf. »Ich
weiß nicht, ob ich mich für dich freuen oder dich bedauern soll.«
»Warum?«
»Mich für dich freuen, daß du
eine neue Rolle hast, oder aber dich bedauern, weil es eine schwierige ist.«
Sie zögerte. »Ben?«
»Ja?«
»Du klingst so kühl. Ist
alles in Ordnung?«
»Mir geht’s gut. Ich denke
nur gerade
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