Der Fluch der Schriftrollen
Nasen blutig geschlagen. Im Wegrennen hatten die Polen ihnen über die
Schulter nachgerufen: »Wir werden’s euch schon zeigen, ihr Jesusmörder! Wir
werden’s euch zeigen!«
Und so hatten Ben und Salomon
von da an den längeren Weg zur Jeschiwa genommen.
Ben fühlte einen Kloß im
Hals. Er rückte ein wenig vom Schreibtisch weg und schaute auf seine Hände.
Seit vielen Jahren hatte er nicht mehr an Salomon Liebowitz gedacht. Ihre
Verbindung war abgebrochen, als Ben von New York nach Kalifornien gezogen war
und Salomon den Entschluß gefaßt hatte, Rabbiner zu werden. Sieben Jahre lang
waren sie die besten Freunde gewesen, und Ben hatte Salomon wie einen Bruder
geliebt und die meiste Zeit mit ihm verbracht.
Doch dann war der Augenblick
der Trennung gekommen – der Augenblick, da es galt, als Erwachsene
Entscheidungen zu treffen und den Weg von reifen Männern zu gehen. Ihre
Kindheit war zu Ende. Salomon Liebowitz und Benjamin Messer konnten ihre
Abenteuer in den Straßen von Brooklyn nicht länger wie zwei Glücksritter
fortsetzen. Jetzt war die Zeit gekommen, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.
Ben hatte sich für die
Wissenschaft und Salomon für Gott entschieden.
Ein schüchternes Pochen drang
von der Tür an sein Ohr, so leise, daß Ben es zuerst nicht hörte. Dann blickte
er in die Richtung, aus der das Geräusch kam, doch Poppäa Sabina, die manchmal
an der Tür kratzte, war nirgends zu sehen. Als das Pochen etwas lauter wurde,
erkannte Ben, daß jemand an der Tür klopfte.
Er warf einen Blick auf das
abgehängte Telefon und fluchte leise, weil er Angie für den Störenfried hielt.
Seufzend fügte er sich in
sein Schicksal und öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung sah er Judy Golden
davor stehen. Eine Tasche hing ihr über die Schulter. In der Hand hielt sie
einen großen braunen Umschlag.
»Hallo, Dr. Messer«, grüßte
sie lächelnd, »ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nun, um ehrlich zu sein, das
tun Sie. Womit kann ich Ihnen dienen?«
Wortlos hielt sie ihm den
Umschlag entgegen. »So rasch?« wunderte er sich und runzelte die Stirn. »Sie
können ihn doch nicht länger als zwei Stunden gehabt haben.«
»Vier Stunden, Dr. Messer. Es
ist nach acht.«
»Ach wirklich?«
»Und ich…« Sie schien seltsam
zurückhaltend. »Ich habe hin und her überlegt, ob ich herkommen oder bis zur
Freitagsstunde warten sollte. Aber ich möchte den Kodex so gerne lesen, und Sie
hatten erwähnt, daß Sie ihn zu einem bestimmten Termin zurückgeben müßten.
Deshalb bin ich hierher gekommen.«
»Ich verstehe nicht.«
Sie hielt ihm den Umschlag
hin. »Er ist leer.«
»Was!« Ben riß ihn auf und
traute seinen Augen nicht. »Ach, um Gottes willen! Kommen Sie herein, kommen
Sie!«
Judy lächelte und verlor
allmählich ihre Anspannung. »Ich will Sie wirklich nicht belästigen, aber ich…«
»Ich weiß«, schnitt er ihr
das Wort ab. Ben lief schnurstracks ins Arbeitszimmer und warf einen prüfenden
Blick auf das beständig anwachsende Durcheinander. Texte alter aramäischer
Schriftrollen, hebräische Apokryphen und Bücher über semitische Handschriften
lagen überall verstreut herum inmitten von Pastrami-Krümeln, einer
ausgetrockneten Gurkenschale, einer schalen Pfeife und drei halbleeren Gläsern
Wein. Typische Junggesellenhöhle, dachte er, während er versuchte, sich zu
erinnern, wo er den Kodex zuletzt gesehen hatte. Dieses Mädchen muß denken, daß
ich ein richtiger Schlamper bin. »Bin gleich wieder bei Ihnen«, murmelte er,
während er seine Bücher hochhob. Einige waren aufgeschlagen und zeigten Fotos
von vergilbten Papyrusstücken, Verzeichnisse und Tabellen mit alphabetischen
Vergleichen oder lange Texte. Alles Hilfsmittel, mit denen er David Ben Jonas
Schriftrollen die feinsten Wortbedeutungen entlocken konnte.
Während er seine Stapel
durchsuchte, betrachtete Judy die beiden Fotografien, die auf dem Schreibtisch
neben Bens Schmierblock ausgebreitet waren. Das müssen die neuen Rollen sein,
dachte sie aufgeregt und trat unauffällig näher heran.
Doch urplötzlich drehte sich
Ben um, riß verärgert die Arme hoch und meinte: »Ich werde die ganze Nacht
brauchen, um mich in diesem Durcheinander zurechtzufinden…« Er hielt inne, als
er sie bei den Fotos sah.
»Ist schon in Ordnung«,
erwiderte sie rasch. »Ich kann warten. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört
habe.«
Der Raum war völlig dunkel
bis auf den kleinen Lichtkreis seiner Schreibtischlampe. Als Ben im Halbdunkel
Judy
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