Der Fluch der Schriftrollen
Jesus ein guter Jude gewesen war, lag auf der
Hand. Daß er wahrscheinlich auch Rabbiner gewesen war, erschien Ben ebenfalls
einleuchtend. Doch daß sich sein Gerichtsverfahren genauso abgespielt haben
sollte, wie es dort geschrieben stand, kam ihm unbegreiflich vor. Irgend etwas
paßte nicht zusammen: die nächtliche Zusammenkunft des Synedriums, des Hohen
Rats der Juden; die Tatsache, daß ein römischer Statthalter einen Haufen
zusammengerotteten Pöbels um seine Entscheidung gebeten haben soll, und die
Hinrichtung durch Kreuzigung statt der üblichen Steinigung. Er hatte die vier
Evangelien wieder und wieder gelesen und konnte sie inzwischen auswendig. In
ihrem Kern, das wußte Ben, lag der Ursprung des unter den Christen verbreiteten
Antisemitismus. Denn laut diesen heiligen Büchern hatten sich die Juden des
Mordes an ihrem Heiland schuldig gemacht.
Und doch konnte es nicht so
sein. Der junge Ben hatte zwar gespürt, daß der Prozeß und die Tötung Jesu
unlogisch waren. Doch damals hatte er noch nicht genau ausmachen können, wo das
Problem lag. Erst Jahre später auf dem College hatte Ben endlich verstanden. Es
war wirklich zu einfach. Die Darstellung in den Evangelien war voll von
Irrtümern und falschen Angaben. Zunächst war da das Synedrium, der Hohe
Jüdische Rat, der angeblich bei Nacht zusammengetreten sein sollte, was er
jedoch nie tat. Zweitens, wenn die jüdischen Führer Jesus der Gotteslästerung
angeklagt und verurteilt hätten (wie sie es laut Markus 14,64 getan hatten),
dann wäre die Strafe Tod durch Steinigen gewesen. Drittens, Pilatus stellte ihn
allem Anschein nach wegen politischer Vergehen unter Anklage, während der Hohe
Rat ganz andere Motive dafür hatte (Markus 15,1-10). Viertens war der Charakter
von Pilatus durch die Überlieferung alter Geschichtsschreiber hinreichend
bekannt. Daß ein so eigensinniger, überheblicher Mann einen jüdischen Mob bei
seinen Entscheidungen zu Rate gezogen und vor dem Pöbel Schwäche gezeigt haben
sollte, war wirklich absurd. Und der fünfte Punkt war, daß es sich bei der
Kreuzigung um eine Bestrafungsart handelte, die nur von Römern und nur bei dem
Verbrechen des Hochverrats angewandt wurde; und an den Querbalken über seinem
Kopf war ein Schild genagelt worden, auf dem das Verbrechen Jesu beschrieben
wurde – er hatte den Anspruch erhoben, König der Juden zu sein. Ganz klar ein
Tatbestand des Verrats.
So stellte sich nun folgende
Frage: Wie kam es, daß man mit einemmal die Juden der Ermordung Jesu
bezichtigte? Wenn man die Lösung des Problems in den Evangelien vermutete,
suchte man vergebens, denn diese waren unlogisch und voll verwirrender
Widersprüche. Dennoch konnte man die Antwort leicht herausfinden, wenn man die
Erzählung aus den Evangelien in Bezug zum geschichtlichen Rahmen setzte.
Das Markus-Evangelium war
kurz vor der Zerstörung Jerusalems verfaßt worden, als in Rom eine heftige
anti-jüdische Stimmung geherrscht hatte. Da Markus nicht imstande gewesen wäre,
die dortigen Heiden zum neuen Christentum zu bekehren, wenn die römischen
Statthalter für die Ermordung des Messias verantwortlich gewesen wären, hatte
er einfach die Schuld von Pilatus auf die Juden abgewälzt – eine einfache
Lösung, um zu erreichen, daß sein Evangelium in Rom akzeptiert würde. Als Ben
sich langsam von seinem Wagen entfernte, schüttelte er traurig den Kopf. Soviel
zu dem Jesusmörder!
Ein Fetzen Papier war an dem
großen, etwas mitgenommenen Umschlag befestigt, der Ben entgegenfiel, als er
seinen Briefkasten öffnete. Darauf hatte sein Nachbar eine kurze Notiz
gekritzelt. Der Postbote war wieder mit einem Einschreibebrief dagewesen und
hatte eben den gelben Abholzettel in Bens Kasten werfen wollen, als der Musiker
zufällig vorbeigekommen war. Er hatte wieder dafür quittiert.
In unermeßlicher Dankbarkeit
drückte Ben den Umschlag an sich. Er würde diesem Burschen die teuerste Flasche
Wein kaufen, die er finden konnte.
Dann hastete er so schnell er
konnte die Treppe hinauf, stürmte in die Wohnung und in sein Arbeitszimmer, wo
er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und den Umschlag hastig aufriß. Obenauf
lag die übliche schlecht getippte Mitteilung von Weatherby, und darunter befand
sich ein weiterer versiegelter Umschlag. Er war dick und fühlte sich an, als
enthielte er eine Menge Fotografien. Ohne die Notiz auch nur zu lesen, warf Ben
sie vor sich auf den Schreibtisch, riß den zweiten Umschlag auf und zog
liebevoll die Bilder daraus
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