Der Fluch der Schriftrollen
starrte vor sich hin.
»Es ist schwer zu sagen. Einerseits mag ich Brooklyn, andererseits wieder
nicht.«
»Schmerzliche Erinnerungen?«
»Manche, nicht alle.« Er
dachte an Salomon Liebowitz. »Ist dort Ihr Bruder gestorben?«
Ben wandte
langsam sein Gesicht, so daß er Judy ansehen konnte. »Mein Bruder starb in
einem Konzentrationslager in Polen.«
»Oh«,
flüsterte sie kaum hörbar.
»Er war noch ein ganz kleiner
Junge und verhungerte. Mein Vater ist übrigens auch dort umgekommen.«
»Wo?«
Er schloß die
Augen und drehte seinen Kopf weg. »Der Ort hieß Majdanek in Lublin, Polen. Etwa
einhundertfünfundzwanzigtausend Juden fanden dort den Tod. Zwei davon waren
mein Vater und mein Bruder.«
»Wie sind Sie diesem
Schicksal entgangen?« fragte sie leise. »Ich weiß nicht recht. Mein Vater
äußerte sich sehr offen gegen die Nazis und bekämpfte sie, wo er konnte. Bevor
sie in unser Haus kamen, wurden wir von Nachbarn gewarnt, und so war mein Vater
noch imstande, mich mit ihrer Hilfe wegzuschaffen. Ich fand im Haus eines
Sympathisanten Aufnahme, während mein Vater, meine Mutter und mein Bruder
fortgebracht wurden. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, auch sie zu verstecken.«
»Was geschah mit Ihrer
Mutter?«
»Sie überlebte es und kam
1944 aus dem Lager, als die Sowjets es befreiten.«
»Nun…« Judy stellte ihr Glas
ebenfalls ab und wischte sich schweigend die Hände an einer Serviette ab. Sie
wußte, daß es Ben Messer nicht leichtgefallen war, sich ihr so anzuvertrauen,
daß es ihm jetzt vielleicht sogar lieber gewesen wäre, ihr nichts darüber
gesagt zu haben. Deshalb fühlte Judy eine gewaltige Verantwortung. »Ich habe
keine Familienangehörigen im Krieg verloren. Ich glaube nicht, daß irgend
jemand von uns, Cousinen, Tanten, Onkel, davon betroffen waren. So kann ich nur
in recht bescheidener Weise mit Ihnen mitfühlen.«
»Hols der Teufel. Es geschah
vor über dreißig Jahren.«
»Trotzdem…«
»Ich war fünf, als meine
Mutter mich wieder zurückholen konnte. Wir wohnten weiterhin bei Freunden, die
ihr irgendwie halfen, eine Arbeit zu finden. Sie war eine ausgezeichnete
Näherin, und sie war imstande, ob Sie es glauben oder nicht, in dieser
Nachkriegszeit genügend Arbeit zu finden, um sich Geld zusammenzusparen. Fünf
Jahre später, als ich zehn war, wanderten wir nach Amerika aus. Meine Mutter
arbeitete hart, um uns hier durchzubringen. Ich kann mich an sie erinnern, wie
sie den ganzen Tag und die ganze Nacht beim Schein einer einzigen Lampe dasaß,
mit einem Haufen änderungsbedürftiger Kleidungsstücke zu ihren Füßen. Sie war
eine geschickte und gewissenhafte Näherin, und es mangelte ihr nie an
Kundschaft. Aber der Lohn war gering und die Arbeit anstrengend. Es machte sie
vorzeitig alt.«
Er wandte sich wieder zu Judy
um. Seine Augen glänzten feucht. »Das und Majdanek.«
Judy schwieg. Sie erkannte,
daß hier alte Wunden aufgerissen worden waren, und blieb ruhig sitzen, bis er
fortfuhr. »Majdanek hatte sie alt und krank gemacht. Als wir nach Amerika
kamen, war sie dreiunddreißig Jahre alt, doch jeder hielt sie für meine
Großmutter. Mit ihr aufzuwachsen war eine Erfahrung für sich. Sie sprach
unablässig von meinem Vater und meinem Bruder, oftmals gerade so, als seien sie
noch am Leben. Es war nicht leicht, wir beide allein in einem fremden Land, und
vermutlich halfen ihr die Erzählungen über ihre Familie dabei, nicht den
Verstand zu verlieren. Sie überhäufte mich mit ihrer Liebe und mütterlichen
Fürsorge. Und ich kann es ihr nicht verübeln. Ich war alles, was sie hatte.«
Bens Gesicht verzog sich zu einem zynischen Lächeln. »Ich erinnere mich, daß
mir immer die Schnürsenkel aufgingen. Bei welchem Kind passiert das nicht? Doch
sie machte eine Riesenaffäre daraus. Wenn sie es sah, geriet sie so außer sich,
daß sie mir drohte, sie werde sie mir dicht über dem Fuß zunähen. ›David‹,
pflegte sie zu sagen, ›wenn du über diese Schnürsenkel stolperst und dir den
Hals brichst, dann bin ich ganz allein. Liebst du deine Mutter nicht?‹ Das arme
Geschöpf lebte in der ständigen Angst, mich zu verlieren. Es wundert mich, daß
sie mich überhaupt zur Schule gehen ließ.«
»Ich kann ihre Gefühle
verstehen«, meinte Judy einfühlsam. »Aber warum nannte sie Sie David?«
»Was?« Er hob den Kopf. »Ach,
Unsinn. Ich meine natürlich Benjy. Sie nannte mich Benjy.«
Judy räusperte sich und
rückte auf der Couch nach vorne. »Es ist spät, und ich sollte jetzt
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