Der Fluch der Schriftrollen
ihn mit offenem Mund an.
»Machen Sie schon. Sagen Sie
ihm das. Sagen Sie ihm, daß ich mich in ein paar Tagen mit ihm in Verbindung
setzen werde und daß es mir wirklich leid tut.«
Sie zögerte abermals,
unsicher, was sie tun sollte. Schließlich, als sie sah, daß sie wirklich keine
Wahl hatte, setzte sie Professor Cox, so gut sie konnte, auseinander, was Ben
gesagt hatte, legte auf und starrte ihn wieder an. »Was ist los?«
»Ihr Unterricht…«
»Ich kann keinen Unterricht
geben, Judy. Nicht jetzt. Sie wissen das. Ich kann keine Minute von David
lassen – oder besser… er wird nicht von mir lassen. Er verfolgt mich, hält mich
gefangen und wird mir keine Atempause geben, bevor ich nicht seine ganze
Geschichte kenne.«
Ohne eine weitere Überlegung
zu äußern, wandte sich Ben von ihr ab und beugte sich über das nächste
Papyrus-Stück. Als er zu lesen begann, musterte Judy ihn eingehend, sah die
dunklen Ringe unter seinen Augen, die tiefen Falten, die sich um seinen Mund
herum eingegraben hatten. Ben war in den letzten Tagen deutlich gealtert.
Nachdem sie einige Zeit
nachgedacht hatte, legte sie ihm schließlich sanft eine Hand auf die Schulter.
»Ben?« Er schien nicht zu hören. »Ben?«
»Hm?« Er blickte auf. »Wann
haben Sie zum letzten Mal gegessen?«
»Gegessen? Ich weiß nicht.
Kann nicht lange her sein. Erst vor… erst vor…« Er runzelte die Stirn. »Ich
erinnere mich nicht.«
»Kein Wunder, daß Sie
Alpträume haben. Sie müssen ja am Verhungern sein. Ich werde nachsehen, ob ich
in der Küche etwas für Sie finde.«
»Ja, ja, das wäre großartig.«
Als sie das Arbeitszimmer
verließ, bemerkte Judy, daß es in der Wohnung sehr warm war. Während sie den
Thermostat herunterdrehte, warf sie einen Blick ins Schlafzimmer und sah die
Verwüstung, die er im Bett angerichtet hatte. Eine Spur aus schmutzigen
Kleidungsstücken führte ins Schlafzimmer. Die übersetzten Seiten von Rolle
Nummer sechs waren im Wohnzimmer über den ganzen Fußboden verstreut, Kissen
lagen überall herum, auf Schritt und Tritt stieß man auf halb geleerte
Kaffeetassen und überquellende Aschenbecher. Die Küche sah noch schlimmer aus.
Inmitten von Bergen mit schmutzigem Geschirr stand dort auch ein Topf mit
kalter Suppe auf dem Herd. Poppäa Sabina hockte zusammengekauert in einer Ecke
und starrte Judy aus funkelnden Augen finster und mißtrauisch an. Sie hatte
sich vor dem Schreien und Stöhnen ihres Herrchens in Sicherheit gebracht und
schmollte nun über einem leeren Futternapf. Judy fütterte die Katze. Als
nächstes reinigte sie die kleine Katzenkiste, die ebenso überquoll wie die
Aschenbecher. Danach wollte sie sich daranmachen, so etwas wie ein Essen
zusammenzustellen. Doch in den Schränken herrschte gähnende Leere.
Als sie das Telefon abermals
klingeln hörte, fuhr sie zusammen. Es klingelte dreimal, bevor sich Ben mit
gedämpfter Stimme meldete. Im nächsten Augenblick hörte sie ihn schreien: »Laß
mich in Ruhe!«, gefolgt von einem Krachen.
Judy rannte ins
Arbeitszimmer, wo sie Ben ruhig über die Rolle gebeugt vorfand. »Was ist
passiert?« fragte sie atemlos. »Nichts.«
»Aber was war…« Die Frage
wurde beantwortet, noch bevor sie sie ganz gestellt hatte. Auf dem Fußboden, an
der Wand gegenüber, lag das Telefon, wo Ben es offensichtlich hingeschleudert
hatte, nachdem er das Kabel herausgerissen hatte.
»Das erspart die Mühe,
ständig den Hörer auszuhängen«, murmelte Judy, als sie das Zimmer verließ und
in die Küche zurückkehrte. Da sie sich völlig im klaren darüber war, daß Ben im
Augenblick selbst das erlesenste Festessen nicht anrühren würde, beschloß Judy,
die Suppe für später aufzuheben. Sie wollte ihn bei der Übersetzung von Rolle
sieben nicht stören und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, die
Wohnung in Ordnung zu bringen.
Als eine Stunde vergangen war
und noch immer kein Geräusch aus dem Arbeitszimmer gedrungen war, wagte es
Judy, einen Blick hineinzuwerfen. Ben saß noch immer über den Papyrus gebeugt,
während er unablässig ins Übersetzungsheft kritzelte und seine Augen unverwandt
an dem aramäischen Text hingen. Doch noch etwas anderes fiel Judy auf, etwas,
das sie faszinierte, bewog, näher heranzutreten. Unmittelbar vor Ben blieb sie
stehen. Was sie sah, verblüffte sie.
Seine Gesichtszüge waren
merkwürdig verklärt, und er schien in eine andere Welt zu blicken. Er war wie
versteinert, wie ein Mensch, der eine tiefgreifende geistige
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