Der Fluch der Schriftrollen
wilde
Hunde auf sie los. Was für eine Art Heldentum soll das sein?« Judy streichelte
sanft Bens Rücken und wartete, während er im Dunkeln weinte. »Das war vor über
dreißig Jahren, Ben«, tröstete sie ihn leise.
»Allerdings.« Er richtete
sich auf und wischte sich die Tränen fort. »Und David Ben Jona lebte vor
zweitausend Jahren, aber schauen Sie ihn nur an, wie er dort steht. Schauen Sie
ihn an!« Judy blickte argwöhnisch in die unergründliche Finsternis des Zimmers.
»Ich sehe ihn nicht, Ben.«
»Nein, natürlich nicht. Er
zeigt sich nur mir. So wie Sie auch meine Mutter nicht brüllen hören können,
was für ein dreckiger kleiner Scheißkerl ich doch sei, weil ich die Bibel der
Gojim las. Was konnte ich ihr sagen? Wie hätte ich ihr erklären können, daß
ich, indem ich die Bibel der Gojim las, ihre Schwäche erkannte, und nicht ihre
Stärke.« Ben putzte sich die Nase und sprach etwas ruhiger weiter. »Wenn ich
sie als Feinde bekämpfen sollte, mußte ich doch über sie Bescheid wissen. Ich
mußte wissen, gegen wen ich überhaupt kämpfte. Aber meine Mutter konnte das
nicht einsehen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß ich vielleicht versuchte,
ein guter Jude zu sein, daß ich der Rabbi werden wollte, den sie in mir sah.
Doch es klappte eben nicht. Sie wollte es erzwingen. Irgend etwas in meinem
Innern zerbrach in jener Nacht. Als ich in meinem Bett lag, zu schwach und
schmerzerfüllt, um zu weinen, war mir, als gingen mir zum ersten Mal die Augen
auf. Und Judy… in dieser Nacht, als ich in meinem Bett lag, begriff ich, was
die jüdische Religion einem Menschen antun kann. Ich sah, wie Millionen von
Juden im Laufe der Geschichte wegen ihres Glaubens dahingeschlachtet worden
waren, wie unzählige Juden in den Konzentrationslagern der Nazis vernichtet
worden waren, wie dieser Glaube meinen Vater zugrunde gerichtet und meiner
Mutter grausame Folterqualen bereitet hatte. Wir waren alle verachtenswert,
weil wir Juden waren. Nicht die Christen befanden sich im Irrtum, sondern wir
selbst. Wir waren das Problem. Und der einzige Weg, dem Elend, der Folter und
dem Wahnsinn des jüdischen Daseins zu entfliehen, bestand für mich einfach
darin, daß ich aufhörte, ein Jude zu sein.«
»Ben…«
»Ich weiß, was Sie jetzt
denken«, unterbrach er sie. »Sie denken, daß meine Mutter wohl nicht die
einzige Wahnsinnige in unserer Familie war. Vielleicht stimmt das auch. Aber
zumindest bin ich in meinem Wahnsinn glücklich.«
»Tatsächlich?«
»Zumindest war ich es bis vor
wenigen Tagen. Von dem Augenblick an, als ich vor sechzehn Jahren die
Vergangenheit hinter mir ließ, bin ich glücklich gewesen. Und zwar deshalb,
weil ich kein Jude mehr war. Wie wäre es gewesen, wenn ich weitergemacht hätte,
wie sie es wünschte?«
»Ich weiß
nicht, Ben.« Judy stand ganz plötzlich auf und schaltete ein paar Lichter an.
»Sagen Sie mir, warum es Sie so aus der Fassung bringt, daß David ein Christ
war. Ich kann immer noch nicht begreifen, warum Sie das stört.«
»Weil«, er erhob sich ebenfalls,
»weil ich mich bis jetzt mit David verwandt gefühlt habe. In den Schriftrollen
ist er gerade neunzehn Jahre alt, und bis zum Alter von neunzehn war ich immer
noch praktizierender Jude. Jetzt hat er das alles umgestoßen. Er ist in
demselben Konflikt, der vor langer Zeit einmal der Anlaß für all meinen Kummer
war – das Dilemma zwischen Christen und Juden. Gute Menschen und schlechte
Menschen. Die einen rein, die anderen verderbt. Als ich vierzehn war, versuchte
ich dieser Unstimmigkeit auf den Grund zu gehen und wurde dafür halb
totgeschlagen. Nun hat David, mein lieber David, sich tatsächlich ihnen
angeschlossen. Nur ist er jetzt gleichzeitig Jude und ein Christ.«
»Zu Davids Zeiten waren
Christen eben Juden, nichts anderes.«
»Ein schwacher Trost.«
»Kann ich Ihnen jetzt etwas
zu essen bringen?«
»Ja…« Ben begann, im
Wohnzimmer auf und ab zu laufen. An der Küchentür blieb Judy stehen und drehte
sich um. »Ach übrigens«, begann sie vorsichtig, »wegen der nächsten Rolle…« Ben
blieb mit hängenden Schultern in der Mitte des Wohnzimmers stehen. »Dem Himmel
sei Dank für die nächste Rolle!« Er schüttelte matt den Kopf. »Da sie die
letzte ist, müßte sie meiner inneren Unruhe ein Ende bereiten und all unsere
Fragen beantworten. Und dann wird alles vorbei sein. Gott, ich kann es gar
nicht… erwarten…«
»Ben…«
»Was?« Die Behutsamkeit in
ihrer Stimme machte ihn stutzig. »Es ist
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