Der Fluch der Schriftrollen
sie sind wirklich
anständige Leute«, gab ich zurück, »und so tadellos, wie Juden nur sein können.
Sie leben nicht nur nach dem Gesetz, Eleasar, sondern ebenso für das
Gesetz, und so will Gott es haben.« Darauf schwieg Eleasar, und so nahm ich für
diesen Tag von ihm Abschied.
Von da an besuchte ich
Miriams Haus regelmäßig, bis auch ich mich eines Tages bekehren ließ. Als Teil
der Zeremonie meiner Aufnahme in die Gemeinschaft der Armen wurde ich tief in
ein Becken mit Wasser eingetaucht. Sie nannten es Taufe, ein Ritual, das schon
seit über hundert Jahren von ihnen praktiziert wurde. Wenn ich damit auch kein
Essener wurde, keine weißen Gewänder trug und auch nicht ihre Heilkunst
erlernte, so wurde ich doch in ihre Gemeinschaft aufgenommen und von allen
Bruder genannt. Gleichzeitig willigte ich ein, meine irdischen Güter mit meinen
neuen Brüdern und Schwestern zu teilen, ihnen in jeder Notlage zu helfen und
mich nach den Vorschriften des Gesetzes rein zu halten, so daß ich vorbereitet
sei, wenn der Meister zurückkehre. Und so kam es, mein Sohn, daß ich dem Neuen
Bund beitrat und mich den frömmsten aller Juden anschloß. Kein Tag verging, an
dem ich meinen eigenen Wert nicht hinterfragte.
Die Zeit kam, als Salmonides
mich wieder aufspürte, um mir den Gewinn aus der Gerstenernte auszubezahlen.
Ich bedachte ihn mit einem stattlichen Honorar, teilte das restliche Geld mit
Miriam und den Armen und gab auch ein wenig dem Olivenhändler, für den ich
arbeitete. Auf Salmonides’ weisen Rat hin verlieh ich einen Teil an einen
Karawanenführer, der nach Damaskus ziehen wollte. Als der Olivenhändler zwei
Monate später starb und mir, den er wie einen Sohn liebte, sein ganzes Hab und
Gut hinterließ, fand ich mich plötzlich in bescheidenem Wohlstand wieder. Und
so fühlte ich mich nun fähig und würdig, Rebekka zur Frau zu nehmen.
Sie saß unter dem Baldachin
vor Miriams Haus, während sich all unsere Freunde um uns scharten, uns
beglückwünschten und mit uns feierten. Der Meister würde bald kommen,
vielleicht schon morgen, und dann wollte ich Rebekka an meiner Seite haben. Als
Mann und Frau würden wir dem neuen König an den Toren Jerusalems zujubeln.
Eleasar sprach nicht mehr mit
mir. Es war, als ob ich mich für ihn in Luft aufgelöst hätte und nicht mehr
existierte. In seinen Augen hatte ich Gott eine fürchterliche Schmach zugefügt,
doch in meinen Augen wurde ich vor Gott rein. Eleasar war ein konservativer
Rabbi, einer, der in der Vergangenheit und für die alten Gesetze lebte. Er
wollte einfach nicht begreifen, daß dies tatsächlich die Endzeit war, die
Jesaja und Daniel vorausgesagt hatten. Er wollte auch nicht einsehen, daß,
während die alte Welt das alte Gesetz brauchte, ein neues Zeitalter ein neues
Gesetz verlangte. Dieses neue Gesetz war der Neue Bund – das Neue Testament,
das die Thora nicht aufhob, sondern vollendete. Es war keinesfalls so, daß wir
dem Gesetz der Bücher Mose entsagt hätten. Ganz im Gegenteil waren wir nun
eifriger als früher darauf bedacht, es einzuhalten. Dennoch änderten sich für
uns zwei Dinge: Wir sahen den Tempel nicht länger als notwendig an, um den Bund
des Herrn heiligzuhalten, denn wir verrichteten unsere Andacht nun zu Hause;
und wir hatten neben dem Sabbat einen zweiten heiligen Tag – an dem wir unser
essenisches Fest der Liebe begingen und Simon oder einem der Zwölf zuhörten,
wie sie über den kommenden König sprachen. Es schmerzte mich, Eleasar zu
verlieren, aber es war eine andere Art von Schmerz als der, der mich zwei Jahre
zuvor zu der Überlegung getrieben hatte, mir das Leben zu nehmen. An jenem
düsteren Tag hatte Eleasar mich mit Schimpf entlassen und weggejagt. Diesmal
verließ ich ihn für eine Aufgabe, die heiliger war als die seine.
Ich blieb auch weiterhin mit
Saul befreundet. Obwohl er sich mit meinem neuen Glauben nicht im geringsten einverstanden
zeigte – er stand ja noch immer unter Eleasars Einfluß –, respektierte er
dennoch mein Recht, ihm zu huldigen. Und ich gab Saul das Versprechen, daß ich,
auch wenn er sich den Armen nicht als Mitglied anschlösse, am Tage der Rückkehr
unseres Meisters nach Jerusalem für ihn sprechen und seinen Wert bezeugen
würde. All dies ereignete sich sechzehn Jahre vor der Zeit, über die ich dir
noch berichten muß. Doch obgleich diese Begebenheiten dem Tag, über den du
erfahren mußt, weit vorausgingen, lasten sie schwer auf den späteren
Ereignissen. Ohne das, was vorher
Weitere Kostenlose Bücher