Der Fluch der Sphinx
bis die Daten mit denen der Grabentdeckung zusammenfielen. Erwartungsgemäß erhöhte sich der Umfang von Carnarvons Korrespondenz, sobald Carter die Entdeckung der Eingangstreppe gemeldet hatte. Erica verweilte bei einem langen Brief, den Carnarvon am 1. Dezember 1922 an Sir Wallis Budge vom Britischen Museum geschrieben hatte. Um den Brief komplett auf den Bildschirm projizieren zu können, hatte er beträchtlich verkleinert werden müssen. Erica mußte sich stark anstrengen, um ihn lesen zu können. Die Handschrift war auch weniger sauber als Carters Schrift. In seinem Brief berichtete Carnarvon sichtlich begeistert von dem Fund und zählte viele der berühmten Stücke auf, die Erica aus der Wanderausstellung von Tutanchamuns Schätzen kannte. Sie las so zügig wie möglich weiter, bis ein Satz ihre besondere Aufmerksamkeit weckte. »Ich habe die Truhen nicht geöffnet und weiß daher nicht, was sich darin befindet, aber wir haben einiges an Papyrusbriefen, Fayencen, Juwelen, Blumensträußen sowie Kerzen auf Henkelkreuzkerzenleuchtern vorliegen.« Erica hatte bei dem Wort »Papyrus« gestutzt. Soviel sie wußte, war kein Papyrus in Tutanchamuns Grab gefunden worden. Das war eine große Enttäuschung gewesen. Man hatte gehofft, Tutanchamuns Gruft würde Erkenntnisse über die unruhige Zeit vermitteln, in welcher er lebte. Aber ohne Dokumente war diese Hoffnung vergeblich gewesen. Doch hier in diesem Brief an Sir Wallis Budge erwähnte Carnarvon einen Papyrus.
Erica wandte sich erneut Carters Aufzeichnungen zu. Sie las noch einmal alle Eintragungen des Tages der Graböffnung und der beiden nachfolgenden Tage; Carter erwähnte keinen Papyrus. Vielmehr betonte er sogar, daß man zu seiner Enttäuschung keinerlei Urkunden vorgefunden habe. Merkwürdig. Indem sie auf Carnarvons Brief an Budge zurückgriff, verglich Erica die Erwähnungen der Fundgegenstände Stück für Stück mit den Notizen Carters. Die einzige Unstimmigkeit war der Papyrus.
Als Erica endlich das trostlose Gebäude des Museums verließ, war es bereits früher Nachmittag. Langsam spazierte sie zum belebten Tahrir-Platz hinüber. Obwohl ihr Magen knurrte, wollte sie noch etwas erledigen, bevor sie ins Meridien Hotel zurückkehrte. Sie entnahm ihrer Segeltuchtasche den Umschlag des Baedekers und las nochmals den Namen und die Anschrift Nasef Malmud, 180 Shari el Tahrir.
Den verkehrsreichen Platz zu überqueren war schon eine Meisterleistung für sich, denn er war voll staubiger Busse und dichtgedrängter Menschenmassen. An der Ecke zum Shari el Tahrir bog sie nach links ab.
»Nasef Malmud«, sagte sie vor sich her. Sie wußte nicht, was sie sich von dieser Verbindung versprechen sollte. Der Shari el Tahrir war einer der moderneren Boulevards, mit eleganten Läden im europäischen Stil und Bürobauten; die Nummer 180 war ein moderner Hochbau aus Marmor und Glas.
Nasef Malmuds Büro befand sich im achten Stock. Als sie hinauffuhr – allein im Lift –, entsann sie sich auf die hier übliche sehr ausgedehnte Mittagspause; wahrscheinlich würde sie Nasef Malmud erst am Spätnachmittag antreffen. Aber der Eingang des Büros stand offen, und sie trat ein, bemerkte beim Hineingehen das Schild mit der Aufschrift »Nasef Malmud Internationale Anwaltspraxis Abt. Import/Export«. In der Anmeldung des Büros saß niemand. Flotte Olivetti-Schreibmaschinen auf Mahagonitischen verrieten, daß das Geschäft gut lief.
»Hallo«, rief Erica.
Unter einer Tür erschien ein stämmiger Mann in sorgfältig maßgeschneidertem dreiteiligem Anzug. Er war um die Fünfzig und sah aus, als gehöre er ins Bostoner Bankenviertel.
»Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte er sich geschäftsmäßig.
»Ich suche Mr. Nasef Malmud«, antwortete Erica.
»Ich bin Nasef Malmud.«
»Hätten Sie wohl einen Augenblick Zeit?« fragte Erica. »Ich möchte mit Ihnen reden.«
Nasef blickte zurück in sein Büro und spitzte die Lippen. Er hielt in der Rechten einen Stift und war offenbar in irgendeiner Arbeit gestört worden. Er wandte sich wieder Erica zu und antwortete, als habe er sich noch nicht völlig entschieden. »Na gut, für ein Momentchen.«
Erica folgte ihm in sein großes Bürozimmer, das in einer Ecke des Gebäudes lag und eine schöne Aussicht über den Shari el Tahrir und den Nil hatte. Nasef setzte sich in seinen hochlehnigen Schreibtischsessel und bot Erica einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. »Was kann ich für Sie tun, junge Dame?« fragte er und tippte seine
Weitere Kostenlose Bücher