Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
erdrückte sie. »Vater, hilf mir. Das einzige Wesen, dem ich mich in den letzten Monaten mit einem Messer genähert habe, war eine Ziege, und die war tot.«
Sie hörte einen Schrei hinter sich, wo Mistress Blanche, gefolgt von O’Donnell, die Treppe zur Mauer heraufgelaufen kam. »Warum steht Ihr hier? Warum tut Ihr nichts?«
»Weil das, was ich tun muss, sie töten könnte«, sagte Adelia, den Blick immer noch aufs Meer gerichtet. Sie holte tief Luft und drehte sich zu den beiden um. »Ich kann sie nicht gesundzaubern. Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich bin nur eine Ärztin. Wisst Ihr, da gibt es ein Organ in unserem Körper … hier.« Sie drückte sich die Hand rechts unten auf den Leib. »Manchmal versagt es …« Sie überlegte, ob sie vom Eiter und den Fäkalstoffen reden sollte, entschied sich aber dagegen. »Ich glaube, das ist bei der Prinzessin der Fall, und es muss entfernt werden.«
»Entfernt werden? Wie?«
»Nun, indem man einen Einschnitt macht und das kranke Organ herausnimmt.« Lieber Gott, wenn es nur so einfach wäre.
»Mit einer Schere? Wie man Kleider zuschneidet?« Blanches Kenntnisse von Einschnitten beschränkten sich auf das Schneidern.
»Ja, nur dass wir ein Messer benutzen.«
Bis dahin war Blanches Ausdruck wild und aufgewühlt gewesen, jetzt wurde sie totenbleich. »Ihr macht ein Loch? In die Haut?«
»Ja. Und nähe es hinterher wieder zu.«
»Aber dann hat sie eine Narbe, oder?«
»Ich fürchte, ja …« Sie wollte weiterreden und der armen Frau erklären, dass ihre Prinzessin keine Schmerzen erleiden würde, denn trotz Doktor Arnulfs empörten Versicherungen, dass er der Kirche gehorche, was den Einsatz von schmerzlindernden Mitteln anging, hatte er die entsprechenden Mohnzubereitungen sämtlich in seiner Tasche.
Das war jedoch nicht die Sorge der Hofdame. »Das geht nicht.« Sie wandte sich zur Treppe, als wollte sie zu Joanna eilen und sie beschützen, doch der Ire hielt sie auf. »Moment, Blanche. So hört der netten Ladyschaft doch erst einmal zu!«
Blanche schlug auf ihn ein. »Versteht Ihr denn nicht? Er wird sie zurückweisen. Liebe Muttergottes, er wird sie zurückweisen.«
Adelia begriff nicht, was Blanche meinte. »Die Prinzessin ist sehr krank, und es gibt nur diese eine kleine Chance, dank der ich ihr Leben retten könnte.«
Blanche legte die Hand auf den Mund und begann sich hin- und herzuwiegen.
O’Donnell nahm Adelias Arm und führte sie ein Stück die Mauer entlang. Die Sonne hob die Falten in seinem Gesicht hervor, und die Augen, denen sie so misstraut hatte, schienen unendlich müde. »Die Ärmste schwimmt zwischen Skylla und Charybdis, Mistress«, sagte er leise. »Einerseits will sie verzweifelt das Leben ihrer Herrin retten, andererseits, wenn die Prinzessin diese Prozedur überlebt … wird sie das?«
»Ich weiß es nicht.«
Er nickte. »Also, wenn sie es überlebt, ist sie nicht mehr vollkommen, versteht Ihr? Dann trägt sie die Narbe einer unheiligen Operation, ist gleichsam eine beschädigte Ware. König William könnte sie zurückweisen, vielleicht muss er es sogar. Ich weiß es nicht. Und wie würde Euer guter Henry diese Erniedrigung aufnehmen? Eine verschmähte Tochter? Es hat schon Kriege aus unwichtigeren Gründen gegeben.«
Adelia begriff. Sie redeten hier nicht einfach über eine kranke Patientin, sondern über ein Stück Handelsware zwischen Königen und Ländern. Das Mädchen, das drüben im Bergfried auf dem Tisch lag, war von internationaler Bedeutung. Falls Joanna die Operation nicht überlebte, was wahrscheinlich war, würde Adelia beschuldigt werden, sie umgebracht zu haben. Wenn sie aber überlebte, so wie zwei von Doktor Gershoms Patienten überlebt hatten, wäre ihr Eingriff dafür verantwortlich – wie hatte es dieser Mann gerade ausgedrückt? – eine Ware, eine königliche Handelsware verdorben zu haben. Im einen wie im anderen Fall würden die politischen Auswirkungen nicht nur sie, sondern den ganzen Kontinent betreffen.
Dass eine Operation, welcher Art auch immer, der Lehre der Kirche zuwiderlief und drastisch bestraft wurde, hatte sie gewusst. Das galt für alle Eingriffe und wurde von denen als Risiko akzeptiert, die solcherlei Dinge beherrschten und ihren Beruf mit genug Leidenschaft ausübten, um sie zur Rettung ihrer Patienten einzusetzen – ohne es an die große Glocke zu hängen. Dass die Schule in Salerno Operationen erlaubte, brachte sie ins mögliche Schussfeld der Kirche.
Und das jetzt,
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