Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
sie möglichst weit von Mansur und Adelia fernzuhalten.
Da übernahm eine andere Stimme das Kommando. »Nein, nein, bringt die Kleine besser nach Lee aus dem Wind«, rief Admiral O’Donnell. »Sonst fliegt ihr alles, was rauskommt, gleich wieder ins Gesicht.«
Joanna wurde über Deck an eine Stelle geführt, wo sie sich festhalten konnte. »Ja, so ist’s recht, mein Schatz, und richte die hübschen Augen auf den Horizont. Ist es besser so?«
Die Prinzessin nickte mit aschfahlem Gesicht.
»Vielleicht«, sagte O’Donnell und ließ den Blick zu Adelia wandern, »sollten wir den kleinen Hund noch loswerden.«
Adelia sah zu ihren Füßen hinunter, wo Ward mit dem Kopf auf ihren Schuhen lag und einen Gestank verströmte, der mit der Frische von Wind und See konkurrierte. Zittrig und schwach wirkte er wie die Prinzessin.
Die Hofdamen und ihre Zofen, mit denen Adelia die Nacht in einer Kabine verbracht hatte, hatten sich bereits beschwert – »Der hat sicher Flöhe«, »Unsere kleinen Hunde sind parfümiert« – und am Ende hatte sie ihn hinaus auf Deck sperren müssen. An einen Pfosten hatte sie ihn gebunden, und er hatte Stunde um Stunde gejault, weil er von seiner Herrin getrennt worden war, die er doch gerade erst wiedergefunden hatte.
Adelia wandte sich mit einem Schulterzucken ab, und der kleine Hund trippelte unsicher auf seinen vier Beinchen hinter ihr her.
Das Ärztegefecht war damit gewonnen, durch Rowleys Hilfe.
Adelia überlegte, ob sich die königliche Kinderfrau, die offenbar eine einflussreiche Person in Joannas Leben war, jetzt wohl auf Mansurs Seite schlagen würde, nachdem sein Rat triumphiert hatte.
Aber weit gefehlt. Quer über Deck war Edeva, deren mächtige Gestalt über ihrem Schützling schwebte, zu hören, wie sie laut vor sich hinsagte, dass kein »Farbiger« Hand an »ihren Liebling« legen werde, und wenn, nur über ihre Leiche.
Von der Mündung der Orne wurde ein Reiter nach Caen geschickt, und die zwei Schiffe warfen Anker, um aufgehübscht zu werden. Die Segel wurden eingeholt, die Salzrückstände des Kanals vom Holz gewaschen, die vergoldeten Teile poliert und bunte Wimpel aufgespannt. Die Musiker machten ihre Instrumente fertig, die Ruderer setzten sich auf ihre Bänke, und die Reisegesellschaft brachte sich auf Deck in Stellung. Und zu guter Letzt wurde eine in Weiß und Gold gekleidete, erholte Joanna auf einem erhöhten Thron ins Licht der Sonne gesetzt.
Vater Adalburt drückte seine Verwunderung darüber aus, wie ähnlich die Normandie England sei. »Seht doch, seht!«, sagte er immer wieder. »Felder und Schilf … und da … durchs Wasser watende Vögel, ganz wie zu Hause. Wer hätte das gedacht? Lieber Gott, wie wundersam Deine Werke sind!«
Langsam, mit Hilfe der im Gleichtakt ins Wasser tauchenden Ruder und zum Klang von Flöten und Tambourinen, begann die Fahrt den Fluss hinauf, von dem William, der Normanne vor mehr als hundert Jahren mit seinen Kriegsschiffen nach England aufgebrochen war.
An den Ufern ließen Schilfschneider die Sicheln sinken, Hirten ließen ihre Kühe allein und riefen Frauen und Kinder, damit sie kamen und sich diese unirdischen Schwäne ansahen.
Als die Schiffe in den Hafen einfuhren, tauschten die Musiker ihre Instrumente gegen Trompeten und spielten ein Fanfarenstück, das von einer Reihe in Wappenröcke gekleideter, auf dem Anleger angetretener Herolde beantwortet wurde.
Der gesamte Adel Caens war in seinen besten Festtagskleidern gekommen, um die Plantagenet-Prinzessin zu begrüßen.
Sie hätten sich den Aufwand sparen können, denn Joanna hatte nur Augen für den in Pfauenfarben gekleideten jungen Mann vorne vor der Menge. Endlich einmal Leben zeigend, sprang sie in die Höhe und kreischte vor Freude: »Henry!«
Henry war vor acht Jahren gekrönt worden, als sich sein Vater um die Thronfolge gesorgt hatte. Der junge König sah prachtvoll aus, hatte die Schönheit seiner Mutter geerbt und glich seinem Vater in keiner Weise.
Und er war gutherzig, dachte Adelia, als Joanna über die ausgebrachte Planke rannte, sich ihren Bruder in die Arme warf und von ihm im Kreis herumgewirbelt wurde. Beide ließen alle königliche Würde fallen und waren nur Bruder und Schwester. Hier zeigte jemand weit größere Sorge um das Mädchen als ihre Eltern, die es so einfach weggeschickt hatten.
Und auch er war charmant. Er dankte, vom Bischof bis zum Ruderer, allen an Bord des königlichen Schiffes dafür, dass sie seine Schwester sicher in
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