Der Fluch des Andvari (German Edition)
Sekretärin wieder zurück und reichte ihr das Glas. Hannah trank langsam, atmete tief ein und aus. Sie konnte den Anblick der Toten nicht verdrängen.
„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Wittek besorgt.
„Nein, nein“, stammelte sie. „Es ist schon in Ordnung. Ich bin nicht verletzt.“
Der Verleger und seine Sekretärin blickten sie mit erwartungsvollen Augen an.
„Ich habe ... heute Morgen ... eine Tote gefunden“, begann Hannah und erzählte stockend von den Ereignissen.
„Das ist ja entsetzlich“, äußerte Wittek schließlich.
„Es war wieder dieser brutale Serienmörder, da bin ich mir sicher“, fügte sie aufgeregt hinzu.
Seit dem Gespräch mit dem Kommissar war sie diesen Gedanken nicht mehr losgeworden.
„Serienmörder?“, fragte Wittek überrascht.
„Ja ... der Mann, der vor einem Jahr bei Königstein auf die gleiche Art eine Frau getötet hat. Und der für viele weitere grausame Morde in dieser Gegend verantwortlich sein soll.“
„Du meinst diesen Jack the Ripper von Hessen?“, fragte die Sekretärin.
„Genau“, nickte Hannah. „So hatte die Presse ihn damals genannt.“
Die Sekretärin sah Wittek an. „Erinnern Sie sich denn nicht an diese Geschichte? Über den letzten Mord gab es groß angelegte Artikel in allen lokalen Zeitungen. Von einer Verschwörung innerhalb der Polizei war die Rede gewesen. Die Behörden hatten anfänglich jegliche Zusammenhänge oder Verbindungen zwischen den einzelnen Morden geleugnet.“
„Natürlich erinnere ich mich“, gab Wittek reserviert zu. „Aber Sie sollten die ganze Sache lieber so schnell wie möglich vergessen, Frau Jenning. Die Polizei hat den Täter gefasst.“
In der Tat, überlegte Hannah, doch der Beschuldigte hatte sich noch vor Prozessbeginn in seiner Zelle erhängt. Die Behörden hatten daraufhin die Ermittlungen eingestellt.
„Wenn Sie wollen, können Sie den Tag freinehmen“, entgegnete Wittek wohlwollend, „oder wenn Sie lieber ...“
„Nein“, unterbrach sie resolut. Und dann sanfter: „Nein. Sie brauchen sich keine Sorgen um mich machen, Herr Wittek. Den ersten Schock habe ich überwunden.“ Aufgeregt sah sie ihn an. „Aber was ist, wenn die Polizei doch den Falschen geschnappt hat? Immerhin war der Mann fast siebzig. Erzählen Sie mir von den Spekulationen der Journalisten ... bitte.“ Dabei lächelte sie ihn mit ihren treuen, unschuldigen Augen an, mit denen sie ihren Vater immer wieder erweichte, wenn sie etwas haben wollte. Es wirkte auch bei Bernhardt Wittek.
„Meinetwegen.“ Und an die Sekretärin gewandt: „Sie können dann wieder an Ihre Arbeit gehen.“
„Ja, Herr Wittek“, folgte sie seiner Anweisung.
Hannah erhob sich und zog zunächst ihre Jacke aus. Besorgt fragte sie den Verleger: „Sie sind mir doch nicht böse, Herr Wittek?“
„Nein“, wehrte er lächelnd ab. „Aber Sie sollten sich erst einmal etwas frisch machen, bevor wir über diese Geschichte sprechen.“
Hannah nickte angespannt. Zehn Minuten später hatte sie sich erfrischt und ihre Kleidung notdürftig gereinigt. Wissbegierig setzte sie sich schließlich auf ihren Computerstuhl und blickte Wittek an. Sie hatte damals noch in Köln gelebt und sich nicht tiefergehend mit der Sache beschäftigt. Fast zeitgleich hatte die Schmiergeldaffäre eines populären Politikers die Öffentlichkeit schockiert und damit das allgemeine Interesse an der Mordserie in den Hintergrund gedrängt.
„Die Journalisten hatten gut recherchiert und stießen auf viele weitere Fälle nach ähnlichem Muster“, begann Wittek, „alle bis dato ungeklärt, was die Polizei unter enormen Erfolgsdruck setzte. Es waren immer junge Frauen, Anfang dreißig. Alle trugen mittelalterliche Gewänder, als man sie fand. Die Polizei sprach später von irgendwelchen Ritualen. Sie hatten religiöse Kultgegenstände in der Wohnung des Täters gefunden und das Messer, mit denen er die Frauen zugerichtet hatte. Der erste Mord geschah Mitte der fünfziger Jahre, so hatten die Journalisten herausgefunden. Die anderen Morde folgten dann mit teils großen Abständen.“
„Das ist wirklich eine beängstigende Geschichte“, äußerte Hannah ruhelos. „Wie konnte er solange unerkannt bleiben?“
„Soviel ich weiß, hatte das BKA einen Tipp bekommen, der die Polizei auf die Spur des Serienmörders brachte.“
„Aber jetzt hat er wieder gemordet.“
„Das ist reine Spekulation, Frau Jenning. Sie steigern sich da in etwas hinein.“ Wittek erhob sich. „Der
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