Der Fluch des Andvari (German Edition)
hatten es mit einem Schattenwesen zu tun. Es klang irrational, aber es schien wohl die Realität zu sein.
„In welcher Epoche spielt das alles?“, fragte der Kommissar atemlos.
„Das ist schwer zu sagen. Vermutlich in der Zeit der Völkerwanderung. Geographisch ist die Geschichte im Frankenland am Mittelrhein angesiedelt.“
„Was haben Sie noch herausgefunden?“
„Der Verfasser erzählt von tumultartigen Aufständen in Dörfern und Städten. Es war eine sehr unruhige und gefahrvolle Zeit. Die Hunnen waren vertrieben, doch durch die politischen Auseinandersetzungen waren Tausende von Menschen unterwegs. Die Goten zogen durch Südeuropa, im Westen begannen die Merowinger mit der Einigung des Frankenreichs. Und in mitten des ganzen Chaos stand Lilith, die blutdürstende Frau, die am Mittelrhein zusätzlich für Angst und Schrecken unter der abergläubischen Bevölkerung sorgte. Doch der herrschende Adel schien dem Gerede und den Gerüchten wenig Glauben zu schenken. Es kam zu Verfolgungen, Vorformen der Inquisition, viele unschuldige Frauen wurden auf Scheiterhaufen verbrannt.“
„Und diese Lilith?“
„Wie ich Ihnen bereits sagte … leider sind die Unterlagen unvollständig, so dass die ganze Angelegenheit nicht schlüssig erfassbar ist. Es scheint jedoch, dass diese Frau zu Beginn des siebten Jahrhunderts aus der Geschichte verschwindet, als der Merowingerkönig Chlotar II. das Frankenreich wieder einte. Er ließ dabei - und das ist vielleicht interessant – die Tochter eines Rivalen hinrichten. Diese Frau trug den Namen Brunhild, wie die legendäre Brünhild aus der Nibelungensage, nach der Sie mich eben gefragt haben.“
„Das ist wirklich interessant“, stimmte Röwer zu.
„Was ich noch aus den Texten erschließen konnte, ist, dass es wohl eine geheime Bruderschaft gab, die im Namen des Königs Jagd auf die Feinde des Frankenreichs machte und maßgeblich am Tod Brunhilds beteiligt war. Es scheint sogar, dass sich diese Bruderschaft bis in unsere Tage erhalten hat. Mehrmals stieß ich auf die Bezeichnung ‚Wächter des Lichts‘ und einmal auf den Begriff ‚des Jägers Tochter‘.“
„Des Jägers Tochter?“
„Sie steht in Zusammenhang mit einem Fluch, der angeblich auf der Bruderschaft lastet.“
„Ein Fluch?“
„Leider habe ich darüber nichts Genaues gefunden.“
„Das ist schade“, erwiderte Röwer angespannt. „Wie lange benötigen Sie noch für die übrigen Papiere?“
„Das ist schwer zu sagen … drei Wochen bestimmt. Ich habe bisher nur etwa ein Drittel untersucht.“
„Da war noch ein zweiter Punkt, den Sie mir erzählen wollten.“
„Ja, genau. Er steht mit der Bruderschaft in Verbindung. Die Männer glaubten einen Weg gefunden zu haben, wie sie diese dämonische Frau vernichten konnten.“
Diese Aussage wühlte den Kommissar auf. „Erzählen Sie.“
„Leider muss ich Ihre Erwartungen dämpfen. Es handelt sich um keinen realen Gegenstand, sondern um ein mystisches Schwert namens Tirfing. Im Gegensatz zu den Menschen seiner Zeit waren die Wächter des Lichts davon überzeugt, dass es sich bei der Frau um einen germanischen Dämon handelte, der nur mit einer Waffe dieser Götter vernichtet werden konnte.“
Röwer war wie gebannt. „Ich danke Ihnen für diese Informationen, Herr Professor.“
„Keine Ursache. Ich weiß zwar nicht, ob ich Ihnen mit dieser unglaublichen Geschichte wirklich weiterhelfen konnte und …“
„Doch, das haben Sie, Herr Professor“, unterbrach der Kommissar. „Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie die Entzifferung der übrigen Papiere rasch zu Ende bringen könnten.“
„Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann, Herr Röwer.“
Daraufhin verabschiedete sich der Kommissar von ihm. Es schien tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Mordserie und dieser blutdürstenden Frau zu bestehen. Realität und Mystik verbanden sich in grausamer Weise. Dennoch hatte der Professor Recht: Es war eine unwirkliche Geschichte. Nur zögernd konnte sich Röwer mit dem Gedanken anfreunden, tatsächlich mit einem Dämon konfrontiert zu sein. Nachdenklich schweifte sein Blick zu Hannah, die soeben Lampions aufhängte. Sie war der Schlüssel zu all den Geheimnissen, ob nun in persona oder nur wegen ihres Wissens. Und so langsam kam dem Kommissar der Gedanke, dass nicht die Männer des Ordens hinter der Frau her waren sondern Brünhild selbst. War Hannah vielleicht des Jägers Tochter?
Kapitel 3
Entdeckungen
Samstag, 29. April
Hamburg. Villa
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