Der Fluch des Blutes
der Hermetischen Stadt begeben hatte, fragte sie sich, ob der volle Mond wieder Macht über sie gewinnen würde.
Würde sein Fluch sie hier finden - hier?
Zapata ahnte nichts von ihren Gedanken. Er winkte sie zu dem Baum, neben dem er immer noch stand.
Als sie bei ihm ankam, deutete er in die Runde und wollte von der Werwölfin wissen: »Ist es nicht purer Aberwitz, wie hier alles gedeiht, obwohl kaum Licht vorhanden ist? Licht und Wärme galten schon bei unseren Vorvätern neben dem Wasser als unverzichtbare Quellen des Gedeihens. Selbst dieses Naturgesetz büßte seine Gültigkeit ein, als der Weltenpfeiler entstand ...«
»Der - Weltenpfeiler ...?«
»Unserer Legendenschreibung nach, die an dem Tag beginnt, da wir unsere Taufe erhielten, trägt dieser Pfeiler das Gewölbe, das uns zu allen Seiten und in der Höhe umgibt.«
Nona lächelte. »Ich kenne ähnliche Märchen.«
In Zapatas Augen schien es aufzublitzen. »Es ist kein Märchen! Ich kann ihn dir jederzeit zeigen. Du genießt unseres Vaters Vertrauen -ich wüßte nicht, was er dagegen einzuwenden hätte.«
Nona nickte. »Müßte ich diesen >Pfeiler< nicht auch ohne deine gnädige Hilfe erblicken? Wenn er das Gewölbe stützt .«
Zapatas Mimik wurde unergründlich. »Es lohnt nicht, darauf zu antworten. In dem Moment, da du ihn siehst, wirst du begreifen. -Komm. Es ist nicht weit. Keine Stelle hier ist weit von einer anderen entfernt .«
Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung.
Nona zögerte noch kurz, dann setzte auch sie sich in Marsch und folgte ihm.
*
Die Hermetische Stadt Mayab und ihr Umland belegten eine Fläche mit einem Radius von etwa fünf Kilometern. Von den hochgelegenen Räumen des Tyrannenpalastes aus war diese so eng begrenzte Welt mühelos zu überblicken, und selbst wenn man auf der Ebene einherschritt, wo die Sicht von Pflanzen und Bauten eingeschränkt wurde, war das Gefühl dieser Enge allgegenwärtig.
Nona fragte sich, ob nur sie als Besucherin dies so empfand - oder ob auch Geschöpfe wie Zapata, die den Ort zeit ihres vampirischen Lebens zu keiner Stunde verlassen hatten, es so empfanden. Und was war mit den sterblichen Bewohnern dieses grauenvollen Kerkers? Was für ein Dasein fristeten sie? Es mußte dem Lebendig-be-graben-sein sehr nahe kommen .
Landru hatte Nona viele verschiedene Sprachen gelehrt, damit sie sich auf ihren Reisen zurechtfinden konnte. Mittels der Magie, die er auch ohne Lilienkelch beherrschte, war dies keine besondere Herausforderung für ihn gewesen.
Im Rückblick erinnerte sich Nona, wie es sie damals verwundert hatte, daß er ihr neben den gebräuchlichen Sprachen auch verschiedene Maya-Dialekte beigebracht hatte, die ihr in der Folge nie auch nur den geringsten Nutzen gebracht hatten - bis heute.
Konnte es also sein, daß er schon immer beabsichtigt hatte, sie eines Tages in sein wohlbehütetes Geheimnis - das zugleich von einer seiner größten Niederlagen als Kelchhüter zeugte - mitzunehmen?
Natürlich war er kein Prophet und vermochte nicht in die Zukunft zu schauen, so daß ihm die näheren Umstände ihrer jetzigen Reise in die tropischen Urwälder Mesoamerikas nicht bekannt gewesen sein konnten. Dennoch ließ Nona der Gedanke nicht los, Landru könnte dieses Vorhaben stets mit sich herumgetragen haben.
»Da vorn - dort ist es .« Zapatas Stimme holte sie in die Gegenwart zurück.
Mayab bestand nicht nur aus der Stadt und ihren Tempeln, es gab auch die landwirtschaftlich genutzten Flächen und kleinere Weiler, in denen Bauern abseits der eigentlichen Stadt lebten. Weder der Palast der Vampire noch deren höchster Tempel lagen im exakten Zentrum des ringförmigen Erdwalls, der Mayabs Grenzen markierte.
Den Mittelpunkt bildete ein vergleichsweise unauffälliger, niedriger Stufenbau, nicht halb so hoch wie die Pyramide, auf der sämtliche Zeremonien von weitreichender Bedeutung stattfanden.
Die Werwölfin blieb stehen. »Wolltest du mir nicht den >Welten-pfeiler< zeigen? Wenn er das ist, muß er unsichtbar sein ...«
Zapata machte nicht den Eindruck, als ließe er sich von ihrem Einwand beirren. Sein ausgestreckter Arm wies zum Palast. »Wenn du so wenig Geduld hast, können wir auch umkehren. Es wird bald finster. Wirklich finster für solche wie dich - bis dahin sollten wir ohnehin heimgekehrt sein.«
»Die Dunkelheit ist nicht mein Feind«, erwiderte Nona vieldeutig.
Zapata sagte nichts darauf; er nickte nur und ging dann weiter auf den kleinen Tempel zu. Nona schloß sich
Weitere Kostenlose Bücher