Der Fluch des Denver Kristoff
jemanden erinnert, der sich oft um mich gekümmert hat, als ich klein war … an meinen älteren Bruder Edgar.«
»Ich erinnere dich an deinen Bruder?«, fragte Cordelia beleidigt.
»Nein, nein, du bist natürlich viel hübscher als er!«, korrigierte Will sich. »Edgar war ein toller Kerl, aber eine Schönheit war er nicht gerade.«
Brendan verdrehte innerlich die Augen. Na, die beiden verstehen sich ja wieder prima , dachte er, als er sich vorsichtig auf die Seite drehte, sehr darauf bedacht, nicht von der Matratze zu kugeln. Bald hörte er Will, Cordelia und Eleanor tief und gleichmäßig atmen … doch er konnte einfach nicht einschlafen.
Dabei war er todmüde; ihm tat alles weh, als hätte er drei Partien Lacrosse hintereinander gespielt. Die vielen ungewohnten Geräusche hielten ihn wach: die Wellen, die an die Hauswand klatschten, das kurze Platschen, wenn ein kleiner Fisch aus dem Wasser sprang (vielleicht war es auch ein anderes, viel gefährlicheres Wesen?), ebenso wie das unaufhörliche Zischen des Fasses, das immer noch durch die hohlen Wände drang. Er hatte aber Angst davor, aufzustehen und allein nach unten zu gehen, also blieb er liegen und wälzte sich im Halbschlaf unruhig auf seinem engen Schlafplatz von einer Seite auf die andere.
Plötzlich hörte er, wie jemand das Zimmer betrat.
Brendan wagte nicht, die Augen zu öffnen. Das ist bestimmt alles nur Einbildung, dachte er. Wenn ich meine Augen geschlossen halte, ist es gleich wieder weg . Als er klein war, hatte er immer wieder das gleiche Spiel gespielt. Er hatte im Bett gelegen und sich vorgestellt, dass der Hindu-Gott Shiva, der Gott der Zerstörung, in sein Zimmer kam und sich über sein Bett beugte. Brendan redete sich ein, dass der Gott ihn töten würde, sobald er aus Angst die Augen aufmachte. (Er hatte in einem Lexikon von Shiva gelesen und danach beschlossen, nie wieder etwas in einem Lexikon nachzuschlagen.)
Doch es war keine Einbildung; die Schritte kamen näher. Das Was-immer-es-war raschelte und klapperte beim Gehen. Brendan wagte nicht, sich zu bewegen, starr vor Angst lag er unter seiner Decke. Nicht hinsehen, bloß nicht hinsehen, beschwor er sich. Doch dann schoss es ihm durch den Kopf: Du musst hinsehen – willst du nicht wissen, wer oder was dich gleich umbringen wird? Er riss die Augen auf …
Neben ihm stand das Skelett aus dem Wandschrank. Es beugte sich über ihn und starrte Brendan unverwandt an. Dafür dass seine Augenhöhlen noch genauso leer waren wie vorher, hatte es einen seltsam stechenden Blick. Über dem einen Auge steckte ein Splitter im Schädelknochen. Als es den Kiefer zu einem breiten Grinsen verzog, schabten seine Wangenknochen hörbar aneinander. Es hatte eine auffällige Zahnlücke. Das Skelett legte einen knochigen Zeigefinger an seine nicht mehr vorhandenen Lippen und zischte leise …
» Schschsch .«
40
A uge in Auge mit dem flüsternden Skelett, erlebte Brendan zu seinem eigenen Entsetzen, wie er plötzlich Töne von sich gab, die alles andere als männlich klangen. Er quiekte und röchelte, als ob er gerade an Tortilla-Chips erstickte.
Das Skelett klappte einen Knochenarm aus und griff nach Brendans Hals. Vergeblich versuchte Brendan, von ihm abzurücken, seine Muskeln hatten sich soeben in Wackelpudding verwandelt; er wollte schreien, doch auf einmal wusste er nicht mehr, wie man atmete. Er glaubte schon, die knöchernen Finger an seinem Hals zu spüren …
Stattdessen tippte ihm das Skelett nur mit der Fingerspitze unters Kinn und drückte seinen Kopf in den Nacken, sodass er gezwungen war, an die Decke zu sehen. Mit der anderen Hand zeigte das Skelett nach oben. Zum Dachboden.
Brendan stieß das Knochengerüst weg. Er schrie so laut, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht geschrien hatte! Er klang wie eine Siebenhundert-Kilo-Kuh, die von einem Bulldozer gerammt wird.
»Bren! Was ist denn mit dir los?«, knurrte Cordelia verschlafen.
Brendan blinzelte – als er die Augen wieder aufmachte, war das Skelett verschwunden. Er selbst saß kerzengerade auf der Matratze und hatte Schweißperlen auf der Stirn. Fieberhaft tastete er mit den Händen sein Gesicht und seinen Brustkorb ab. Gott sei Dank, er lebte noch!
»Ich glaub’s nicht!«, murmelte er. »Was war das denn? Ein Traum?«
»Was sonst?« Cordelia rollte sich verschlafen auf den Bauch. »Es sei denn, du hast gerade für deine Rolle als Feuermelder geprobt.«
»Sei nicht so gemein zu ihm. Er hatte gerade einen Albtraum«,
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