Der Fluch des Florentiners
inneren Frieden. Deshalb hatte sie nach ihrer Flucht aus der Wohnung von Abdel Rahman nur einen einzigen Gedanken gehabt: Sie wollte nach Taroudant ins Hotel Palais Salam. Es blieb ein Traum, der sich schnell zu einem Albtraum wan delte. Denn schon an der ersten Straßenkreuzung, der sie sich nach ihrer Flucht genähert hatte, standen Polizeiautos. Eine Straßensperre. Sie suchten nach ihr! Der Traum, mit einem Bus oder einem Taxi von Marrakesch nach Ouarzazate und von dort den weiten Weg nach Taroudannt ins Palais Salam zu nehmen, hatte sich schnell zerschlagen. Der Albtraum, der seinen grausamen Höhepunkt mit dem Tod von Cathrine gefunden hatte, war noch nicht zu Ende gewesen. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, was nach dem Sprung aus dem Fenster geschehen war. Da waren nur noch Fragmente in ihrer Erinnerung: die kalte Nacht, das Entsetzen, das ihr den Atem zum Rennen durch die Gärten und über die Geröllebenen zwischen Palmeraie und Marrakesch genommen hatte. Viele Kilometer war sie durch die nordafrikanische Nacht gehetzt, war gestürzt, war vor den Männern mit den Gewehren und vor der Wahrheit geflohen. Die Wahrheit war, dass Cathrine nicht mehr lebte. Realität war, dass sie nur wenig Geld, zwei Pässe und nur die Kleider, die sie am Körper trug, besaß. Und zwei unvorstellbar wertvolle Edelsteine, die ihr nicht gehörten. Aber eins war auch sicher: Wer immer sie gewesen waren, diese Männer in Abdel Rahmans Wohnung, sie würden sie suchen! Wollten sie sie töten? Warum? Wo war sie jetzt? Es fiel ihr schwer, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Vorsichtig nahm sie ihre Hände von den Augen weg, wandte sich nach links und blinzelte die Realität an. Sanjay saß neben ihr. Ja, er war es. Fragend schaute er sie an.
» Gleich! Warte … «, flüsterte sie und schloss die Augen wieder, versuchte, sich zu erinnern. Sie brauchte die Erinnerung, um die Gegenwart zu verstehen. Die atemlose Flucht vom Hotel Palmeraie nach Marrakesc h h atte ihr alle Kraft geraubt. Sie hatte nicht nachdenken können. Zu sehr war sie darauf konzentriert gewesen, in der stockfinsteren Nacht nicht in einen Abgrund zu stürzen oder zu nahe an eine Straße zu gelangen. Straßen musste sie meiden, ebenso wie Flughäfen und Menschen. Sie musste dahin fliehen, wo viele, sehr viele Menschen waren. Anonymität war der beste Schutzschild. Aber sie musste auch unauffällig sein. Mit ihren langen, blonden Haaren fiel sie überall auf. Die Haare würden sie verraten!
Eine Glasscherbe, an der sie sich beim Hinfallen die Hand aufgeschnitten hatte, brachte die rettende Lösung. Es hatte sehr wehgetan, als sie sich die Haare mit der Glasscherbe abgeschnitten hatte. Es hatte nicht nur körperlich wehgetan. Ihre Haare gehörten zu ihrem Leben, so wie Cathrine dazugehörte – dazugehört hatte. Schon als Kind hatte sie die Haare lang getragen. Mit jeder schmerzhaft mit der Glasscherbe abrasierten Strähne, die auf die von der Nacht umhüllte marokkanische Erde fiel , war ihr bewusster geworden, in welch aussichtsloser Situation sie steckte. Alles war so verworren, so grausam irreal, dass sie auf ihrer Flucht durch die Nacht mehrfach den Gedanken gehabt hatte, sterben zu wollen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie diese Erlebnisse jemals würde verkraften können. Wer würde ihr glauben? Wer konnte ihr helfen? Wem durfte sie noch glauben? Wieder öffnete sie vorsichtig die Augen. Sanjay war nicht weg. Er saß schweigend neben ihr, blickte sie abwartend an. Erst jetzt registrierte sie ihre eigene Kleidung. Wo waren die Jeans, die Bluse? Sie trug einen Sari aus feinstem Tuch, durchwirkt mit silbernen und goldenen Fäden.
» Wohin fliegen wir? «
» Nach Kairo. Und von dort weiter nach Indien. «
» Zu dir nach Hause? «
»Ja.«
» Wer bin ich? Warum trage ich diese indischen Kleider? «
» Du bist nicht mehr Marie-Claire de Vries. Ich habe dir einen indischen Pass, eine neue Identität besorgt. Es ist der Pass meiner Schwester. Sie lebt als Wirtschaftsattaché in London. Sie hat es mir zuliebe getan. Du siehst ihr mit den kurzen Haaren und in diesem Sari verblüffend ähnlich. Niemand wird dich mit diesem Diplomatenpass aufhalten. Die Beamten am Flughafen in Marrakesch haben dich für meine Frau gehalten. Du hast jetzt ein Leben und drei Pässe. Wer du in Zukunft sein willst, kannst du später entscheiden. «
» Ich heiße jetzt Kasliwal? «
» Ja. «
» Habe ich auch einen Vornamen? «
» Sogar zwei: Akuti
Weitere Kostenlose Bücher