Der Fluch des Florentiners
die gefesselte Frau dabei getötet wurde. Wie es aber der anderen Frau hatte gelingen können, aus dem Fenster zu springen und im Schutz der Dunkelheit zu fliehen, war ihm persönlich schleierhaft. Ebenso wie es nicht zu erklären war, wie sie bei ihrer Flucht noch in den Besitz der beiden gestohlenen Diamanten gelangen konnte. Fest stand nur, dass die beiden Diamanten weg waren. Und diese Frau auch. Jetzt hieß es, sie so schnell wie möglich zu finden. Tot oder lebendig. Am besten tot. Ihm persönlich waren diese blöden Edelsteine völlig gleichgültig. Das war ein Problem der europ äischen Kollegen und das von Interpol. Ihn interessierte nur die terroristische Seite des Ganzen, die die innere Sicherheit Marokkos tangieren konnte. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war eine Frau, die als Zeugin vor europäischen Gerichten aussagte. Dann würde wahrscheinlich die Sache mit dem italienischen Kommissar, der als Targi verkleidet zwei Menschen getötet hatte, wieder aufgerollt werden. Und dann kämen schnell Fragen auf, wie dieser Carlo Frattini ums Leben gekommen war. Peinliche Fragen würden es werden. Vermutlich würde dann auch ihre seit Jahren in Spanien heimlich durchgeführte Operation, die dem Bruder von Abdel Rahman galt, auffliegen. Und damit ihr Informant. Hier ging es also um übergeordnete staatliche Interessen. Nein, plappernde Zeugen konnte man da nicht gebrauchen. Alle waren sie tot: Abdel Rahman, Francis Roundell, Commissario Frattini und diese Frau im Bett.
Nur die andere lebte noch und war auf der Flucht. Ob es nun Marie-Claire de Vries war oder Cathrine de Vries, war ihm egal. Diese verworrene Sache mit den Zwillingsschwestern, mit der ihn die Kollegen von Interpol dauernd genervt und damit ständig seine Einsatzpläne durcheinander gebracht hatten, interessierte ihn nicht. Sein Befehl aus Rabat lautete, das Problem zu lösen. Für immer. Dem stand jetzt nur noch diese flüchtige Frau im Wege. Eine europäische Frau mit auffällig langen blonden Haaren. Es würde nicht zu schwierig werden, eine solche Europäerin in Marokko zu finden. Viele Möglichkeiten hatte sie nicht, aus Marrakesch rauszukommen. Der Flughafen wurde bereits überwacht. Die wenigen Ausfallstraßen nach Fes und Meknes, Casablanca und Agadir waren abgesperrt. In den Süden, Richtung Ouarzazate, würde sie kaum fliehen. Der Tizi N ’ Tichka als einziger von Marrakesc h a us mit dem Auto erreichbare Pass war in dieser Jahreszeit kaum zu überqueren. Oben in den Bergen des Hohen Atlas hatte es geschneit. Ohne Allradfahrzeug kam da momentan niemand rüber. Er hatte keine Zweifel: Seine Leute würden diese einzige noch lebende Zeugin aufspüren. Wahrscheinlich würde sie dann bei der Vernehmung aus dem Fenster in den Tod springen, um einer Verurteilung zu lebenslanger Haft in einem stinkenden marokkanischen Gefängnis irgendwo in der Wüste zu entgehen. Verzweifelte Täter taten so etwas manchmal …
21. Kapitel
D
ie mächtigen Lehmmauern waren baufällig, und das riesige Tor mit seinen verrosteten Eisenbeschlägen verhieß nichts Gutes. Doch hinter dem wehrhaften Gemäuer lag das Paradies: Haushoher Oleander thronte über dem schmalen Weg; Bougainvillen wallten in prächtigem Rot und Weiß und Lila von den Dächern und Mauern herab; die Orangenbäume trugen schwer unter der Last der Früchte, deren Duft sich mit dem der Zitronenbäumchen einte; Bananenstauden mit überd i mensional großen Fruchtblüten säumten schmale Wasserkanäle, die sich zwischen den vielen Springbrunnen durch das üppige Grün schlängelten.
Ein eigentümliches Geräusch erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick ging hoch zu den eckigen Türmen, die über dem Innenhof des alten Anwesens thronten. Filigran in die Zinnen des Turms eingeflochten konnte sie dort oben ein riesiges Nest ausmachen, in dem zwei Schwarzstörche stolz mit nach hinten gebeugtem Kopf ihre Lebenslust in den blauen marokkanischen Himmel klapperten. Um den nächstliegenden Turm kreisten zwei Falken. Die mit dunkelbraunen Flecke n a kzentuierten Federkleider glänzten im späten Abendlicht. Ihre krummen Schnäbel öffneten sich zu herzergreifendbegeisterten Schreien nach Freiheit, die an den alten Gemäuern widerhallten und die prachtvollen gelben, roten und schwarzen Vögel in den Bambusbüschen nahe des Swimmingpools überhaupt nicht zu ängstigen schienen. Das Paradies! Ja, das musste es sein. Ihr Blick wanderte von den gelb-braunen Wasserschildkröten des Teichs zu einem
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