Der Fluch des Florentiners
tot. Er hat es verdient. Einer ist verwundet. Den hatte die Kugel eines Polizisten erwischt. Und den, der Klara vergewaltigt und mich gezwungen hat, dabei zuzuschauen, den Kleinen mit der Narbe auf dem Bauch, den schnappe ich mir …
Gegen Viertel nach drei wurde Freiherr Georg Ludwig von Hohenstein aus der Untersuchungshaft entlassen und stieg in den Wagen seines Anwalts.
*
Nahezu zeitgleich betrat der Kriminalbeamte Carlo Frattini vom Betrugsdezernat das Zimmer 323 im dritten Stock des Polize i präsidiums von Florenz. Seine Kollegin Francesca saß auf dem Stuhl in der Ecke des Büros, unmittelbar neben dem vergitterten Fenster. Der kleine Araber hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte ihn an. In dem Trainingsanzug, den man ihm von der marokkanischen Botschaft gebracht hatte, sah er älter aus.
» Ciao, Francesca «, grüßte Carlo. » Der kleine Killer wird gleich abgeholt. Ich dachte, er will vielleicht noch einmal auf die Toilette, bevor er fährt. Ist eine lange Fahrt von Florenz nach Rom. So wie ich die Araber kenne, wird er kaum mit dir auf die Toilette gehen wollen. «
Die Kriminalbeamtin lächelte ihn an. » Was machst du denn hier? Von mir aus, frag ihn, wenn es dir gelingt. Zu mir sagt er keinen Pieps. Aber du kannst ja perfekt Arabisch. Vielleich t m uss er wirklich mal. Aber pass auf, dass er nicht aus dem Fenster springt. «
Der Junge starrte den hünenhaften Mann mit der Waffe im Schulterholster ängstlich an.
» Komm mit! Aber versuch nicht abzuhauen. Du kommst hier nicht raus. Außerdem holen dich deine Landsleute gleich ab. Also komm. «
Der arabische Junge wunderte sich, auf Arabisch angesprochen zu werden. Verunsichert lächelnd ging er langsam auf Carlo Frattini zu. Entsetzt schüttelte er den Kopf, als der Kriminalbeamte ihm Handschellen anlegte.
» Dass machen wir hier in Italien immer so mit Mördern «, zischte Carlo Frattini wütend und schob den Jungen vor sich her aus dem Zimmer.
Zwanzig Schritte den Flur entlang nach rechts lag die Herrentoilette. Der Flur war menschenleer. Carlo Frattini öffnete die Tür. Im Vorraum war niemand. Im hinteren Raum mit den vier Toilettenkabinen schien ebenfalls niemand zu sein. Er bückte sich und schaute unter den Türen hindurch. Nein, keiner da! Sein Blick ging zu dem kleinen Fenster an der Stirnwand. Es war nicht vergittert, weil es nur in den engen Luftschacht führte. Hier konnte kein Festgenommener fliehen. Jedenfalls kein Erwachsener. Der Junge starrte ihn an. Angst lag in seinem Blick. Blitzschnell griff Carlo Frattini mit der rechten Hand nach dem Kopf des Jungen, riss ihn herum, zwang ihn mit seinem Körpergewicht auf den Boden, presste seine Hand auf den Mund des sich wild wehrenden Kindes, zerrte mit der anderen Hand eine Rolle Klebeband aus seiner Jackentasche und verband ihm mit wenigen Handgriffen den Mund. Er spürte die große Angst des Jungen unter sich.
» Hör auf zu strampeln «, fuhr er ihn an und drehte ihn auf den Rücken.
Der Junge riss die Augen weit auf. Er hatte Todesangst. Der Kriminalbeamte huschte zur Eingangstür, verriegelte sie von innen und schloss die Zwischentür hinter sich. Der Junge blieb wie paralysiert liegen. Langsam schritt Carlo Frattini an ihm vorbei zum Fenster, öffnete es, packte das schmächtige Kind mit beiden Händen an der Hüfte, wuchtete es mühelos vom Boden direkt an das Fenster und legte den in Handschellen gefesselten kleinen Körper mit dem Bauch auf das Fenstersims, so dass der Kopf des Kindes aus dem Fenster im dritten Stock hinab in den Lüftungsschacht baumelte. Der Junge hörte schlagartig auf zu zappeln. Die Angst, in den engen Schacht hinabzustürzen, lähmte ihn. Carlo Frattini stöhnte unter der Anstrengung und Aufregung.
» Du hast meinen Vater getötet. Ihr habt meinen Vater getötet! Er war ein gutmütiger Mann, ein kranker alter Museumswärter, der es verdient hätte, friedlich zu sterben und nicht in die Luft gesprengt zu werden … «
Der Junge schluchzte. Carlo Frattini empfand kein Mitleid. Stattdessen zuckte er kurz mit beiden Händen, als wolle er das Kind hinabstoßen. Doch er zog den Jungen wieder zurück, ließ ihn auf den Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Er erschrak ein wenig, als er die Todesangst in den Augen des Kindes sah.
» In meiner Heimat Sardinien gilt unter sardischen Hirten seit jeher das Gesetz der Vendetta: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Tötest du meinen Vater, töte ich dich oder deinen Vater – oder deine Brüder. Ich
Weitere Kostenlose Bücher