Der Fluch des Florentiners
die Crew und die Notärztin war kurz gewesen. Jetzt saß er im Cockpit, in knapp einer Stunde würden sie in Rheintal landen. Joachim, sein Copilot, blätterte in den Flugunterlagen. Hinten im Learjet hörte er die Ärztin mit dem Sanitäter sprechen.
» Um was geht es eigentlich genau? «, fragte Richard Kristoffs den Copiloten.
» Ist ein Diplomat, dem bei einem Unfall ein Metallstab in den Bauch gedrungen ist. Allerdings schon vor ein paar Tagen «, antwortete dieser. » Soweit ich es aus den Unterlagen ersehen konnte, möchte er lieber in seinem Heimatland im Krankenhaus behandelt werden. Nichts Ungewöhnliches also, reine Routine. «
D as sah Dr. Ulrike Blagus anders. Die Ambulanzärztin wirkte sehr beunruhigt, als sie knapp eine Stunde später auf dem Flugfeld von Rheintal im Dreiländereck Deutschland-Österreich-Schweiz das Cockpit betrat. Der Patient, nach Krankenunterlagen und Aussehen offensichtlich ein Araber, war vor wenigen Minuten auf einer Trage aus dem wartenden Krankenwagen in den Learjet umgelagert worden. Weil sie gesehen hatte, dass die Wunde unterhalb der rechten Rippen unter dem Verband blutete, hatte sie den Patienten untersucht – und war erschrocken.
» Das ist keine Unfallverletzung «, flüsterte sie Flugkapitän Richard Kristoffs nun zu, » das ist eine Schusswunde! Ist zwar nur ein Durchschuss, aber es ist keine Unfallverletzung! «
» Sind Sie sich sicher? «, fragte Richard Kristoffs leise und schaute die Ärztin erschrocken an. Er kannte sie von früheren Flügen. » Kennen Sie sich aus mit Schusswunden? «
» Ja, und ob ich mich damit auskenne«, antwortete die Ärztin. »Ich war als Ärztin lange Zeit im Balkankrieg. Schusswunden habe ich genug gesehen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat der Mann da hinten einen Durchschuss aus einer Neun-Millimeter-Waffe erlitten. Ist glatt durchgegangen. Eine Infektion kann ich nicht diagnostizieren. Nur ganz leichte Blutungen , die wahrscheinlich durch den Transport bedingt sind. Die Wunde ist relativ gut geheilt, aber wie es in ihm drinnen aussieht, kann ich nicht sagen. Er macht einen ziemlich fitten Eindruck. Daher verstehe ich nicht, warum er mit einem Ambulanzflugzeug ausgeflogen werden muss. Die Wunde wurde professionell versorgt, das zumindest steht fest. «
Flugkapitän Richard Kristoffs blätterte in den Unterlagen, die ihm von den Schweizer Kollegen des Rettungsfahrzeugs übergeben worden waren. Alles war vorschriftsmäßig und komplett. Die Schweizer Sicherheitsbehörden am Flughafen hatten dem Patienten eine Ausreisegenehmigung erteilt. Das ärztliche Dossier war von einem Krankenhaus in Zürich amtlich beglaubigt ins Englische übersetzt und von einem Professor mit arabischem Namen unterschrieben worden. Und dort war ganz eindeutig von einer Unfallverletzung die Rede. Zudem war der Patient ein Diplomat und unterstand somit nicht der Schweizer Jurisdiktion.
Die Sache war ihm suspekt. Aber er sah keine Möglichkeit, den in wenigen Minuten geplanten Start zu verzögern oder gar bei den Schweizer Behörden am Flughafen vorstellig zu werden, zumal ein Beamter des Schweizer Zolls und ein Polizist beim Umladen des Patienten anwesend waren. Nein, nach internati o nalem Recht konnte er als Pilot eines Ambulanzfluges in einem solchen dubiosen Fall nichts unternehmen. Später, nach der Rückkehr nach Wien, würde er einen Bericht schreiben. Mehr konnte er nicht tun, Wenige Minuten später startete der Learjet vom Flughafen Rheintal. Als der Schweizer Lotse über Funk um Bestätigung des Zielflughafens bat, hatte Flugkapitän Richard Kristoffs allerdings ein mulmiges Gefühl. Der Zielflughafen beunruhigte ihn ebensosehr wie sein undurchsichtiger Fluggast. Glück licherweise würde er für die Strecke mit dem Learjet kaum mehr als vier Stunden brauchen.
Was soll ’ s, dachte er sich. Mach dir keine Gedanken über Dinge, die dich nichts angehen. Wenn alles nach Plan läuft, bist du spätestens morgen Vormittag wieder zu Hause. Seine Antwort über Funk an den Lotsen im Tower war entsprechend kurz: » Ambulanz 101 bestätigt Flug nach Marrakesch. «
*
Marie-Claire de Vries konnte sich nicht erinnern, jemals so viele japanische und chinesische Touristen auf dem Heldenplatz vor der Hofburg gesehen zu haben. Die Sonne schien angenehm warm, und auf den Wiesen saßen Hunderte junge Leute. Auffallend viele Grüppchen von Schwarzafrikanern lungerten herum. Seit die Wiener Stadtverwaltung und die Polizeibehö r den sich dazu
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