Der Fluch des Florentiners
die gelblichen Steintreppen. Ihre Freundin sah völlig abgearbeitet aus. Das brünette Haar hing ihr strähnig auf die Schultern herab, und sie hatte Schatten unter den Augen.
» Chrissie, du siehst furchtbar aus, wenn ich das einmal so direkt sagen darf! Bist du krank? «
» Nein, meine Liebe, ich bin nicht krank, ich bin bescheuert! Ich arbeite für eintausendvierhundert Euro im Monat vierzehn Stunden am Tag und bin auch noch so blöd, Arbeit mit nach Hause zu nehmen, um sie am Wochenende zu erledigen. «
» Was nichts anderes bedeutet, als dass du mal wieder Liebeskummer hast, richtig? «, unterbrach Marie-Claire sie. Si e a hnte, dass es ihrer Freundin nicht gut ging. Chrissie hatte ein unrühmliches Faible für Männer, die bereits vergeben waren.
» Ich bewundere deinen Scharfsinn«, erwiderte die Freundin. »Mein stressiger Job beim Kunsthistorischen Museum macht mich bei weitem nicht so krank wie dieser verfluchte Beziehungsstress. Aber ich hasse es nun mal, alleine zu sein! Das weißt du doch. Ist ja nichts Neues. Neu ist höchstens, dass ich derzeit einsam bin, obwohl ich gleich zwei Verehrer habe. Der eine hat noch weniger Zeit als ich. Er ist Broker an der Börse, was gleichbedeutend mit einen Achtzehn-Stunden -J ob ist. Wenn er mal Zeit hat, schläft er. Leider nicht mit mir! Und der andere ist gerade mit seiner angeblich ach so gehassten Frau und seinen Kindern im Urlaub! Aber was soll ’ s, zumindest garantiert mir mein Aktien-Lover, dass ich nicht immer allein aufstehen muss! Aber jetzt erzähl mir lieber, wieso du mit mir in die Schatzkammer willst? Ich habe leider nicht sehr viel Zeit, doch für einen kurzen Rundgang und ’ ne Tasse Kaffee danach wird es reichen. Komm, ich lancier dich an diesen Massen vorbei. «
Vor der Kasse der Schatzkammer im Tiefgeschoss herrschte ein unglaubliches Gedränge. Trotz Klimaanlage war es stickig-heiß. Marie-Claire war froh, dass ihre Freundin ihr es ermö g lichte, ohne große Wartezeiten in dieses wundervolle Museum zu gelangen. Schon als Kind hatte sie hier die prunkvollen Schätze aus tausend Jahren europäischer Geschichte, die Insignien und Kleinode des Heiligen Römischen Reiches, die Insignien der österreichischen Erbhuldigung und den Kro n schatz des Hauses Habsburg bestaunt. Während ihres Kunstgeschichtestudiums hatte sie viele Tage in dieser Schat z kammer verbracht. Irgendwie freute sie sich darauf , wieder einmal in die mystisch-dumpfe Atmosphäre dieses einzigartigen Museums mit seinem schummrigen Licht einzutauchen. Zumal sie sehr aufgeregt war. Was immer sie früher hier auch bestaunt und bewundert hatte, nie hatte sie einzelne Preziosen und Ausstellungsgegenstände in einem mit der Gegenwart verbu n denen Kontext gesehen. Der heutige Besuch war anders. Sie würde vieles mit anderen Augen sehen. Dazu gehörten das Burgundische Erbe – und der Schatz des Ordens der Ritter vom Goldenen Vlies. Ihre Tasche musste sie an der Garderobe im Vorraum des Treppenaufgangs abgeben. Der Kontrast zwischen dem modern gehaltenen Foyer mit seinen schlichten grau-blau-weißen Steinböden und dem pompösen Kronleuchter fiel ihr erst auf, als sie auf der Treppe auf halber Höhe stehen blieb.
» Warte einen Moment, Christiane. Bevor wir da reingehen, will ich dir kurz sagen, was mich hierher treibt. Ich mache gerade die Basisrecherche zu einem Projekt, bei dem irgendwie die Ritter vom Goldenen Vlies und der Florentiner Diamant eine Rolle spielen. Ich kann noch nichts Konkretes sagen, im Moment ist es noch reine Schreibtischrecherche. Aber du kennst ja meinen Job. Wie immer ist natürlich alles streng vertraulich. «
Christiane Schachert blieb abrupt auf der Treppe stehen.
» Ups «, brachte sie ihr Erstaunen zum Ausdruck, » der Florentiner? Die legendenumrankte Zierde und der Fluch des Hauses Habsburg? Das ist ja eine nette Überraschung! Vor allem, weil du ihn in Verbindung mit den Rittern vom Goldenen Vlies nennst. «
Marie-Claire de Vries machte keinen Hehl daraus, dass sie alles, nur nicht diese Reaktion ihrer Freundin erwartet hatte.
» Du kennst dich mit dem Florentiner aus? «
» Was heißt auskennen? Als ich meine Dissertation schrieb, bin ich zufällig auf den Florentiner gestoßen. Mich hat dieser Edelstein sofort fasziniert. Ich weiß, dass er einer der legendärsten Diamanten des Abendlandes ist. Und ich weiß, dass Kaiser Franz Joseph ihn aus der österreichischen Staatskrone entnehmen und ihn in ein Diadem für seine Kaiserin Sisi
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