Der Fluch des Florentiners
gewesen. Mit allem hatte sie gestern gerechnet, aber nicht damit, dass sich der Araber kurz darauf von ihr verabschiedete. So charmant und unglaublich leutselig, wie er mit ihr in dem Café geplaudert hatte, war sie schnell davon ausgegangen, dass er sie zu einem gemeinsamen Abendessen einladen würde. Sie hätte sofort Ja gesagt! Doch er hatte nicht einmal eine Andeutung gemacht. Zuvorkommend-galant war er gewesen, sie hatten viel gelacht, sich über ihre früheren Reisen nach Marokko und Syrien unterhalten – auf Französisch! Sie hatte es unglaublich genossen, mit ihm auf Französisch zu plaudern. Sie liebte diese Sprache. Im Lycée Français wurde ausschließlich in Französisch unterrichtet. Französisch war für sie wie ihre Muttersprache. Sie konnte es besser als Deutsch und träumte sogar in dieser Sprache. Während ihrer Aufenthalte in Tunesien und Marokko hatte sie es geliebt, sich mit den Menschen dieser Länder auf Französisch zu verständigen, zumal sie Französisch sprechende Araber schon immer sehr erotisch gefunden hatte. Das war schon im Lycée so gewesen. Unter ihren Freunden an der Schule befanden sich stets Jungen aus arabischen Län dern. Sie hatten etwas, was ihren österreichischen Klassenkameraden fehlte. Diese eigentümliche Faszination, die orientalische Männer für sie hatten, zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Auf ihrer ersten Ägyptenreise, zusammen mit ihren Eltern, hatte sie sich im Alter von fünfzehn Jahren in einen jungen Ägypter verguckt und mit ihm heimlich geschmust. In Syrien war sie dann während ihres Studiums zum ersten Mal den männlichen Verlockungen Arabiens erlegen. Später hatte sie mehrere Jahre eine Beziehung mit einem Mann aus Tunesien geführt und auch die Grenzen einer solchen Verbindung, die in der Einstellung arabischer Männer zu Frauen bestanden, kennen gelernt. Jahrelang hatte sie nicht mehr darüber nachgedacht, warum sie arabische Männer so unglaublich erotisch fand – bis Abdel Rahman gestern aufgetaucht war.
Er hatte mit ihr geflirtet und dabei heimlich nach ihrem Körper geschielt. Sie war sich absolut sicher, dass er sie begehrte. Vieles hatte dieser Abdel Rahman getan und gesagt, was sie schnell glauben ließ, er würde sie bitten, den Abend mit ihm zu verbringen. Doch nach einem kurzem Telefonat entschuldigte er sich aus dringenden geschäftlichen Gründen und war verschwunden. Und mit ihm ihre wilden Fantasien! Ungläubig hatte sie ihm ihre Telefonnummer gegeben, ohne jedoch im Gegenzug seine zu erhalten. Illusion ade, hatte sie beim Verlassen des Cafés noch gedacht.
Draußen hatte er ihr, um ihr über ein unebenes Stück Weg zu helfen, die Hand gereicht – und ihre dann länger festgehalten als nötig. Die Gänsehaut, die sie in diesem Moment verspürt hatte, verging die ganze Nacht nicht. Es war eine grausige Nacht gewesen. Wirres Zeug hatte sie geträumt. Erinnerungsfragmente einten sich im Halbschlaf mit Empfindungen, di e t ief in ihr schlummerten und nach neuem Leben lechzten. Wie ein in Zeitlupe rückwärts laufender Film ihres Leben während des Arabistikstudiums verbanden sich Traumbilder aus der wunderschönen altrömischen Wüstenstadt Palmyra in Syrien mit den Stimmen der Sprecher der Son-et-Lu mières-Show im Tempel von Karnak in Oberägypten. Da ging die Sonne hinter den Ruinen von Karthago in Tunesien unter und stieg am frühen Morgen aus denen im tunesischen Sbeitla wieder empor. In den Sanddünen des Erg Chebbi und in der Sandwüste von Chigaga sah sie sich neben dem Lagerfeuer auf dem Wüstenboden liegen und die kristallklaren Sterne über sich funkeln. In allen Traumbildern huschten Gesichter durch die Erinnerungen. Gesichter von Männern. Sie waren zu schemenhaft, als dass Marie-Claire sie hätte benennen können, aber sie wusste, wer sie waren und was sie bedeuteten, welche Sehnsucht sich in ihnen verbarg. Ja, das war ihr Leben, wie sie es sich immer vorgestellt und auch über viele Jahre gelebt hatte. Deswegen hatte sie Arabistik studiert. Dann hatte sie dieses Leben aus den Augen verloren. Doch heute Nacht hatte es tief in ihr rumort. Heute Nacht war es wieder erwacht, zusammen mit Gesichtern – arabischen Gesichtern. Was sie etwas schockiert hatte, war, dass sowohl Sanjay Kasliwal aus dem indischen Jaipur als auch Abdel Rahman darin aufgetaucht war. Eines hatte sie darüber komplett vergessen – ihren Auftrag und Francis Roundell. Das Klingeln des Handys riss sie zurück in die Gegenwart. Marie-Claire
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