Der Fluch des Florentiners
tief stehende Vormittagssonne lugte langsam über den Giebel des Hauses. Sonnenstrahlen touchierten die Palmenkronen über der Terrasse – und schienen nun direkt in sein Zielfernrohr! Er wusste, was nun geschehen würde, er kannte diese Situation von der Jagd. Kein Schütze konnte bei tief stehender Sonne einen halbwegs sicheren Schuss abgeben! Wieder blickte er ins Zielfernrohr – und erstarrte!
Schweißtropfen schossen aus seinen Poren hervor. Sein Herz raste. Seine Hand zitterte mitsamt der Armbrust. Da war er!
Der schmächtige Araber, der Mann, der Klara vergewaltigt hatte! Er hatte offensichtlich die ganze Zeit hinter dem Busch gesessen. Jetzt stand er mitten auf der Terrasse. Die Sonne schien immer mehr in das Zielfernrohr. Das Bild jenes Mannes, den er hasste, löste sich auf der Mattscheibe in Grautönen auf. Sein Körper war faktisch nicht mehr zu sehen. Er trug ein rotes Hemd, dessen Farbe sich mit dem Orange in der Zieloptik zu diffusen Prismen und Kreisen einte. Weg war der Körper, aber er sah den Kopf, das Gesicht. Jenes Gesicht, das ihn hämisch angelacht hatte. Ja, ohne Zweifel: Das war er! Und dann war er weg. Die Sonne strahlte in voller Kraft genau in die Linse des Fernrohrs. Er war da, er konnte ihn, das rote Hemd, über das Zielfernrohr hinweg sehr gut und klar und erschreckend nahe sehen. Aber schießen konnte er nicht mehr. Ohne Zielfernrohr war das nicht möglich. Dann verschwand der Schmächtige im Hotelzimmer. Genau in diesem Augenblick klingelte das Handy von Freiherr Georg von Hohenstein. Der Ton riss ihn aus der dumpfen Welt des Tötens und des Hasses. Zitternd klappte er das Handy auf. Mit einem Auge schielte er noch immer hinüber auf die Terrasse. Da war niemand mehr zu sehen. Die Stimme am anderen Ende des Telefons war sehr freundlich und warm. Es war eine Frau. Er kannte sie nicht. Er hörte ihr auch nicht richtig zu. Alles um ihn herum war irreal, verzerrt, ein Albtraum.
» Sagen Sie das noch mal … «, schrie er plötzlich in sein Handy. Ja, er schrie – ungläubig, glücklich, zweifelnd und doch voller Glauben. Dann weinte er hemmungslos.
*
Faisal Jawda hatte ein höchst eigentümliches Gefühl. Er wusste, dass er träumte. Aber er wusste auch, dass er vor Sekunden noch einen Artikel in der Gazette du Maroc gelesen hatte. Solche Halbschlafmomente kannte er – mochte sie. Es war ein wunderschönes, zeit- und raumloses Gefühl, so wie auf einem Wattebausch schwebend auf dem Friseursessel unter dem schattigen Baum zu liegen und der realen Welt zu entgleiten. Er sah über sich die Äste und Blätter des sich sanft in der Mittagshitze bewegenden Eukalyptusbaumes. Und doch waren sein Geist und sein Körper entfleucht. Er hatte oft darüber nachgedacht, wie er dieses Gefühl des Schwebens und Dahintreibens erhalten konnte. Entspannter konnten Körper und Geist nicht sein. Nicht einmal wenn er Haschisch rauchte oder den Rauch der Wasserpfeife lange und tief inhalierte, kamen solche Empfindungen zustande.
Heute war es besonders intensiv, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, dass er tatsächlich sehr entspannt war. Zu Recht. Die Dinge liefen gut. Seine beiden Freunde hatten ihn heute Morgen wissen lassen, dass sie die Zimmer im Hotel wahrscheinlich in einer Woche aufgeben würden, weil ihre Arbeit erledigt sei. Deshalb war er nach Marrakesch gefahren, hatte sich eine Zeitung gekauft und war zu seinem Freund, dem Friseur gegangen. Moussa war nicht da, aber der Laden war wie immer geöffnet. Er hatte er sich auf dem Sessel im Freien ausgestreckt, seine Zeitung gelesen und war darüber eingeschlummert, bis ihn die Worte in dieser seltsamen Sprache zu stören begannen.
Arabisch war es nicht, was er da hörte. Auch die Stimme kannte er nicht. Sie kam von irgendwo hinter ihm. War es wieder ein Tourist, der hier zufälligerweise vorbeikam und nach dem Weg fragte? Mühsam rappelte er sich hoch. Un d d rehte sich, auf die Ellbogen gestützt, um. Da war zwar keine Stimme mehr, aber hinter ihm stand ein Mann. Es war ein Targi, in blauem Gewand, das Gesicht und den Kopf mit einem schwarzen Tuch umwickelt. Nur die Augen waren zu sehen. Doch diese Augen waren nicht die jener Männer, die er, Faisal Jawda, so gut kannte. Als Soldat hatte er seinen Dienst im Süden Marokkos absolviert. Vier Jahre lang war er in Guelmim und später in Tarfaya, südlich des Anti-Atlas -G ebirges, stationiert gewesen. Der militärische Konflikt um Spanisch-Sahara war zwar damals schon beendet gewesen, aber in
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