Der Fluch des Khan
Wasser gelassen wurde. Er ließ den Blick über die Handvoll Besatzungsmitglieder schweifen, die noch an Deck waren, sah aber nirgendwo jemandem vom Erkundungsteam. Wahrscheinlich saßen sie in einem der ersten Rettungsboote.
Iwan Popowitsch schlief tief und fest in seiner Koje und träumte, er wäre beim Fliegenfischen am Lena-Strom, als ihn plötzlich ein dumpfes Knattern weckte. Der Kapitän des Tragflächenbootes
Woschod
, das vor Listwjanka lag, rieb sich das von Wind und Wodka gerötete Gesicht und schlüpfte in einen schweren Pelzmantel. Dann torkelte er verschlafen aus seiner kleinen Kabine und stieg zum Achterdeck des Fährschiffes hinauf.
Im nächsten Moment stach ihm der grelle Schein zweier Strahler in die Augen, und der kalte Abwind des blendenden Ungetüms über ihm beutelte ihn durch. Dann stiegen die Lichter langsam auf, verharrten einen Augenblick, drehten ab und verschwanden. Als das Schrappen der Hubschrauberrotoren in der Nacht verhallte, rieb sich Popowitsch die Augen, um die tausend roten Sterne loszuwerden, die vor seinen Pupillen tanzten. Als er sie wieder aufschlug, sah er einen Mann vor sich stehen. Groß und dunkelhaarig, weiße Zähne, ein freundliches Lächeln.
»Guten Abend«, sagte der Fremde in ruhigem Tonfall. »Was dagegen, wenn ich mir Ihr Boot ausborge?«
Das schnelle Fährschiff raste auf seinen beiden vorderen Tragflächen quer durch die Bucht und war binnen kurzer Zeit bei der
Wereschtschagin.
Popowitsch hielt direkt auf den Bug des sinkenden Forschungsschiffes zu, drehte dann geschickt bei und nahm das Gas weg, sodass sein Boot nur einen Meter davor liegen blieb. Pitt stand an der Reling des Achterdecks und blickte zu dem krängenden grauen Schiff empor. Das Heck der
Wereschtschagin
lag inzwischen aberwitzig tief im Wasser, sodass der Bug in einem Zwanzig-Grad-Winkel zum Himmel aufragte. Das leckende Schiff befand sich in einem gefährlichen Zustand und konnte jeden Moment untergehen oder kentern.
Plötzlich ertönte ein metallisches Scheppern über ihm, dann rasselte ein knapp zehn Meter langes Stück Ankertrosse aus der Klüse, gefolgt von einer über die Bordwand ausgeworfenen Belegleine und einer Boje, mit der die Stelle gekennzeichnet wurde, wo man die Trosse gekappt hatte. Als das letzte Glied der schweren Kette im Wasser versank, hob sich der Bug, der jetzt vom Zug und der Last des Ankers befreit war, um ein weiteres Stück.
»Schleppleine los«, schrie jemand von oben.
Pitt blickte auf und sah zu seiner Beruhigung Giordino und Gunn an der Bugreling stehen. Kurz darauf hievten sie ein schweres Tau über die Bordwand und ließen es zur Wasserlinie herab.
Popowitsch reagierte sofort. Der erfahrene Fährschiffkapitän setzte sein Boot zurück, bis Pitt die Schlinge der herabhängenden Leine ergreifen und an Bord ziehen konnte. Im Nu hatte er sie an einem Poller festgezurrt, sprang dann auf und winkte Popowitsch mit hochgerecktem Daumen zu.
»Schleppleine belegt«, brüllte er. »Bringen Sie uns weg, Iwan.«
Popowitsch schaltete die Dieselmaschinen auf langsame Fahrt und tastete sich voran, bis die Schleppleine gestrafft war, dann gab er behutsam mehr Gas. Als die Schrauben der Fähre das Wasser verwirbelten, ließ er jede Vorsicht fallen und schob die Gasregler unverzüglich auf volle Fahrt voraus.
Pitt, der noch immer am Heck stand, hörte das Aufheulen der beiden Diesel, die jetzt mit voller Drehzahl liefen. Weiße Gischt brodelte um die wirbelnden Schrauben, doch von einer Vorwärtsbewegung war nichts zu spüren. Pitt war sich schon darüber im Klaren, dass es ein heikles Manöver war, so als versuchte eine Mücke einen Elefanten zu ziehen, aber diese Mücke hatte einen garstigen Biss. Immerhin konnte die Fähre mit bis zu zweiundddreißig Knoten laufen, und die beiden 1000 PS starken Maschinen entwickelten eine gewaltige Kraft.
Niemand spürte die erste Bewegung, aber dann kroch die
Wereschtschagin
doch Zentimeter um Zentimeter und schließlich Meter um Meter voran. Giordino und Gunn verfolgten das Ganze gemeinsam mit dem Kapitän und einer Handvoll Besatzungsmitglieder von der Brücke aus, wo alle den Atem anhielten, während sie sich langsam auf die Ortschaft zuschoben. Popowitsch machte keine großen Umstände und steuerte auf kürzestem Weg zum Ufer, genau auf das Zentrum von Listwjanka zu.
Die beiden Schiffe hatten sich rund achthundert Meter vorangeschleppt, als ein lang gezogenes Knarren und Ächzen aus dem Bauch der
Wereschtschagin
drang. Offenbar
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