Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
»Du wurdest gewarnt, Elaira. Löse dich vom Prinzen von Rathain. Reinige deine Gedanken von der Erinnerung an ihn und weihe dein Herz dem Gehorsam. Umsicht wird von dir erwartet. All deine Taten sollen von nun an abgewogen werden, bis sich die Oberste Zauberin bereit fühlt, ein endgültiges Urteil über dich zu fällen.«
Morriel neigte den Kopf.
Frostig erklärte Lirenda die Bewegung. »Dir wird Gelegenheit gegeben, dich zu bewähren. Du kannst gehen.«
Elaira erhob sich und knickste vor dem Podest. Unter dem prüfenden Blick aus den Krähenaugen der Obersten Zauberin, mißgünstig von den Pagen beobachtet, beeilte sich Elaira, die Halle zu verlassen. Erleichterung ließ ihre Knie weich werden. Mochte auch Lirenda mißtrauisch sein, so schien Morriel doch damit zufrieden zu sein, daß ein schlichtes Kartenspiel Elairas Aufenthalt in Erdane zu erklären vermochte. Es würde keine zweite Befragung geben, keine noch tiefere Suche über den Kristall, solange sie nicht selbst einen weiteren Anlaß dazu lieferte.
Klug genug, den Gemeinschaftsquartieren und den neugierigen Fragen ihrer Schwestern auszuweichen, verließ Elaira das Gebäude und ging zu den Ställen, um nach ihrer erschöpfte Stute zu sehen. Hier, inmitten der Pferde, eingehüllt in den Duft nach Heu und geöltem Leder und einer beinahe mystischen Stille, striegelte sie das feuchte Fell der Stute mit gänzlich unbewußtem Eifer.
Draußen im Garten pfiff ein Knabe leise eine Melodie, während er Holz für die Küche hackte, doch auch der Friede dieses Augenblicks vermochte ihr keine innere Ruhe zu vermitteln.
Als sie sich weit genug erholt hatte, nachzudenken, überlegte Elaira, welche Bedeutung der Urteilsverschiebung zukam, und ihr Unbehagen nahm wieder zu. Ganz plötzlich schien ihr die Anklage in bezug auf Arithon ganz und gar nicht mehr dumm und weit hergeholt zu sein. Die Zwänge ihrer Bewährung lagen quälend unangenehm vor ihr, und die schattige Ruhe des Stalles bot ihr keine Erleichterung.
Nicht, solange der Geruch nach Heu und warmen Pferden sie unentrinnbar an den Mann erinnerte.
Gefangen in einer Falle, in der sie sich niemals hätte verfangen dürfen, schleuderte Elaira die Bürste fort und verließ den Stall.
Die Stute schob ihre weiche Nase über die Stalltür, doch ihre Bitte um Aufmerksamkeit blieb unbemerkt. Ihre junge Herrin blickte nur noch in sich selbst hinein. Die Worte: ›Du wurdest gewarnt‹, hallten als schreckliches Echo durch ihren Geist. Für eine endlos scheinende Minute gab sich Elaira den gossensprachlichen Flüchen ihrer frühen Kindheit hin.
Dann erinnerte sie sich voller Unbehagen an die Worte Enithen Tuers: ›Du brauchst gewiß keinen Seher, um zu wissen, daß sich dein Schicksal soeben der Finsternis zugewandt hat.‹
Zitternd floh Elaira in ihrer feuchten, verknitterten Kleidung in den nebligen Nachmittag. Erst vor vier Stunden hatte sie sich nach nichts anderem, als nach einem warmen Bad und einem Bett gesehnt.
Omen
Am morastigen Ufer eines Tümpels hält eine Schlange mit blutroten Augen inne. Ihre Zunge schnellt hervor. Gleich darauf gleitet das Reptil zielstrebig auf einen Riß in einer verfallenen, alten Mauer zu. Nur einen Augenblick später folgt eine weitere Schlange, und noch eine, bis schließlich eine ganz Horde Reptilien das schlammige Wasser zum Brodeln bringt und die farblosen Riedgrasbüschel erzittern läßt …
Im Norden wirft sich unter einem ledernen Zeltdach im nebligen Wald ein narbengesichtiger Barbarenführer unter seinen schweißgetränkten Fellen im Schlaf hin und her; nur einen Moment, bevor seine Gemahlin ihn aus dem unerbittlichen Griff seines Prophetischen Traumes befreien kann, sieht er das Gesicht seines Königs und seinen eigenen sicheren Tod …
Auf einer Böschung inmitten eines weiten, verwilderten Graslandes, erheben sich vier große Türme über einer Ruinenstadt. Regentropfen, die wie Tränen aussehen, fallen auf die zertrümmerten Fundamente eines fünften Turmes …
8
DIE CLANS VON CAMRI
In der Abenddämmerung erwachte Lysaer, umgeben von sonderbar verzierten Wänden in einem vom Feuer erwärmten Raum, eingewickelt in Decken aus feinster Angorawolle, die seine schwitzenden Glieder mit ihrer erstickenden Hitze einhüllten. Er warf die Decken von sich. Nackt erhob er sich von der Federmatratze und ging über den edlen Teppich zu dem Glasfenster hinüber. Draußen verteilten sich die Zelte, Steinhütten und grob behauene Blockhäuser des
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