Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
der Pferdekoppel, den Rücken dem Zaun zugewandt und eifrig damit beschäftigt, die Knoten aus der schwarzen Stirnlocke seiner Stute zu entfernen. Geräuschlos näherte sich Asandir über den festgetretenen Schnee, doch trotz seiner Vorsicht blieb er nicht unbemerkt. Arithon ergriff sogleich das Wort, als der Zauberer hinter ihm stehenblieb.
»Elshians Lyranthe sollte hierbleiben.« Schmerz ließ seine Stimme erbeben, die heiser von den ausgedehnten Stunden der Gesangsdarbietung klang. Zu müde, sich mit Feinheiten zu befassen, fügte Arithon in aller Deutlichkeit hinzu: »Ihr wißt besser als ich, wie wenig sie gespielt werden wird.«
Asandir stützte sich mit verschränkten Armen auf die oberste Zaunlatte. Ohne Umhang und Kapuze stand er in der Kälte, und der Wind fuhr ihm durch das silberne Haar und den nachtdunklen Stoff seiner Tunika. »Im Verlauf von fünf Jahrhunderten kann sich eine Menge ändern.«
Zu diesem Zeitpunkt zog Arithon es vor, das Vermächtnis, das ihm durch Daviens verzauberten Brunnen zugefallen war, aus seinem Bewußtsein zu verbannen. Er zuckte die Achseln. »Es hat sich nicht viel im Verlauf von fünf Jahrhunderten verändert.«
So deutlich mit dem wahren Grund seines Besuches konfrontiert, gab Asandir seine tolerante Haltung auf. »Habt Ihr geglaubt, ich wüßte nicht, was im Heuboden der Vier Raben geschehen ist? Oder, daß Ihr am folgenden Tag im Paß von Orlan Grithen provoziert habt, um mich zum Handeln zu zwingen und Eures Halbbruders Erbe offenzulegen?«
»Lysaer hat jetzt, wonach er sich sehnt: eine Krone und den Anspruch auf Recht und Ordnung.« Die Stute schnaubte leise, trat zurück und entzog sich Arithons Händen. Ohne diese Berührung wünschte er sich, er trüge Handschuhe, weil es so kalt war.
Asandir schien unempfindlich gegen den beißendkalten Wind zu sein. »Laßt mich Euch eines sagen, Teir’s’Ffalenn: Ihr wart frei, Eure eigenen Entscheidungen zu treffen, weil die Erinnerungsblockade nie dazu gedacht war, Euren Willen zu unterwerfen.«
»Ach, nein?« konterte Arithon schnell und hart. »Wozu war sie dann überhaupt gut?«
Dem Zauberer war nicht an Ärger gelegen. Sehr sanft fragte er: »Würdet Ihr einen Mann am Feuer wärmen wollen, der gerade erst einer Brandfolter ausgesetzt war? Die Erinnerung an Euren Fehlschlag in Karthan war noch allzu schmerzhaft und frisch.«
Arithon zuckte zusammen. Gnadenlos drang der Zauberer weiter in ihn, ohne jedoch auch nur einmal die Stimme zu heben. »Maenalle sollte den Prinzen von Tysan heute kennenlernen, das hatte die Bruderschaft bereits beschlossen. Sie wäre persönlich über seine Herkunft in Kenntnis gesetzt worden, denn Lysaer sollte nicht eher von seinem Erbe erfahren, bis er selbst die Grausamkeiten der Stadtregenten erlebt hätte. Nun hat Eure Manipulation der Ereignisse Eurem Halbbruder einen unverzeihlichen Schock eingebracht, und Grithen wurde in Schande zurück in die Lager im Vorgebirge gesandt. Ihm wird möglicherweise sein Erbe aberkannt werden.«
Still und starr lauschte Arithon Asandirs Worten.
Mit der Härte eines Diamantschleifsteines fuhr Asandir fort: »Grithen ist der letzte lebende Nachfahre des letzten Herzogs von Erdane. Seine beiden Geschwister sind den Speeren der Kopfgeldjäger zum Opfer gefallen. Der gestrige Krawall könnte dazu führen, daß eine Erbfolge, die es bereits in der Zeit vor dem Aufruhr gegeben hatte, nun zu Ende geht.«
Arithon tat nichts, die Verantwortung von sich zu weisen. Unerbittlich und mit einer Stimme, so knirschend wie vom Wind gelöste Eiskristalle, sagte er statt dessen: »Ihr sprecht von Dingen, die alle hätten verhindert werden können.«
»Wenn die Bruderschaft ihre Macht dazu einsetzen würde, das Schicksal eines Mannes zu manipulieren, ja.« Asandir betrachtete seine Finger, die ruhig auf den mitternachtsdunklen Ärmeln seiner Tunika lagen, während Arithon darüber nachdachte, was die Worte bedeuteten: Sein Schicksal war weder frei von Bedingtheiten noch gänzlich vorherbestimmt. Er konnte durch die Koppel gehen, die Stute satteln und davonreiten, ohne daß ihn jemand verfolgen würde. Er konnte auch die wundervolle Lyranthe nehmen, die ihm Maenalle überlassen hatte, und bei ihren Barden in den Niederungen die Vorzüge der Senilität des hohen Alters kennenlernen.
Arithon sah sich um und schaute schließlich in die Augen des Zauberers, die so klar wie Spiegel und so unvergleichlich friedlich blickten. »Ihr würdet mich einfach so gehen
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