Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
tintenverschmierten Hände an eine weitere Barriere aus geschnitztem Eichenholz. Unter einem reinen, blauweißen Lichtstrahl lösten sich die geheimnisvollen Schutzvorrichtungen und ließen den satten Duft von Gras und feuchter Erde herein.
Mit einem Gefühl des Bedauerns hielt Sethvir inne. Es war schon traurig genug, daß der Althainturm jemals die Verteidigungsanlagen aus dem zweiten Zeitalter benötigt hatte; daß aber auch Schutzzauber notwendig geworden waren, und daß er diesen Zauber lösen mußte, um einen anderen Zauberer der Bruderschaft hereinzulassen, war ganz besonders tragisch.
Die Schutzzauber, die Sethvir gelöst hatte, hätte er selbst ohne jede Mühe durchdringen können. Traithe aber, der, auf Kosten seiner Kräfte, in der Stunde der Not ganz allein das südliche Weltentor versiegelt hatte, war dazu nicht mehr in der Lage. Der Nebelgeist, der über Athera herrschte, war Teil eines größeren Ganzen, und hätte Traithe seine Macht nicht eingeschränkt, dann hätten Desh-Thieres Tentakel nicht nur das Sonnenlicht verfinstert, sondern alles Leben auf dem Planeten erstickt.
Der Rabe schlug aufgeregt mit den Flügeln.
»Schon gut, kleiner Bruder.« In die Wirklichkeit zurückgezerrt, öffnete Sethvir das hölzerne Tor.
Draußen, hinter dem halbzerstörten Fallgitter, stand ein Zauberer, dessen zerfurchtes Gesicht mit der Hakennase im Schatten eines breitkrempigen Hutes verborgen lag. Eine silbergemusterte Bauchbinde und sein ordentlich geschnittenes, silbernes Haar waren die einzig hellen Punkte an ihm. Seine übrige Erscheinung war von Kopf bis Fuß in schmucklose schwarze Kleider gehüllt. Der Rabe wartete nicht auf Sethvir, sondern flog durch das Gitter, um auf der Schulter seines Herrn Platz zu nehmen.
»Sei willkommen«, grüßte der Hüter des Althainturmes, während er den Nebel mit seinen blaugrünen Augen durchdrang. »Bist du gut vorangekommen?«
Traithe aus der Bruderschaft zuckte die Schultern. Abscheu schlich sich in seine sonst so stoische Haltung. »Ich hatte es nicht weit, war nur in Castle Point.«
Das Heulen des Windes hallte durch das Tor, während das Gitter schwerfällig aufwärtsglitt. Traithe rief: »Ich habe sechs Tage gebraucht, bis ich einen Kapitän auftreiben konnte, der bereit war, die Küste hinaufzusegeln.«
Das Gitter stoppte. Sethvir gab eine rüde Äußerung von sich, die einsam durch die eintretende Stille hallte. »Das Elend wird nicht fortbestehen, mein Freund. Wenn Desh-Thiere erst gebannt ist, wird auch die verlorene Kunst der Navigation wieder auferstehen.«
»Aber das erfordert …« Ein Lächeln neuerwachter Hoffnung schlich sich in Traithes finstere Miene. »Die Westtorprophezeiung? Hast du mich deswegen hergerufen? Ist ein Prinz aus Dascen Elur zurückgekehrt?«
»Prinzen«, entgegnete Sethvir lakonisch. »S’Ilessid und s’Ffalenn. Sie sind gemeinsam mit Asandir unterwegs zu uns.«
Nun lachte Traithe offen heraus. »Das ist ja noch besser! Oh Ath, ich wollte mich gerade über meine wunden Füße beschweren, und nun möchte ich statt dessen lieber tanzen.« Er bückte sich und nahm Sattel und Zaumzeug vom Boden neben seinen Stiefeln auf, als würde er die vielen Meilen nicht mehr spüren, die er in dieser Nacht zu Pferde zurückgelegt hatte.
Nicht einmal diese Bemerkung vermochte Sethvir, der angespannt die Winde hielt, aufzuheitern. Daß gerade Traithe, der mehr als jeder andere geopfert hatte, um die Ausbreitung Desh-Thieres einzudämmen, der am meisten in Gefahr wäre, sollten die Städter jemals von seiner wahren Identität Kenntnis erlangen, der während der letzten, schwierigen Jahre allen Übeln unverwüstlich die Stirn geboten hatte – daß von den Sieben gerade er Wochen warten und Meilen zurücklegen mußte, ehe er von den Neuigkeiten erfahren durfte, die Asandir, Kharadmon und Luhaine im Augenblick des Geschehens bekannt gewesen waren, empfand Sethvir als himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Während sie gemeinsam hineingingen, schloß Sethvir die Tore wieder und aktivierte die Schutzzauber mit den gleitenden Bewegungen langer Erfahrung, während Traithe die Statuen zum Gedenken an Helden alter Rassen betrachtete, die nun, trotz der polierten Juwelen und des glänzenden Zierrats der Zentauren, so flüchtig wie ein Traum zu sein schienen. »Welches Leid auch immer die Welt befällt, die Heiligkeit von Althain strahlt weiter ungebrochen. Du bist ein sorgsamer Hüter.«
Etwas geschmeichelt antwortete Sethvir mit einer vagen Geste.
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