Der Fluch vom Valle della Luna
leidet an Schizophrenie und Verfolgungswahn. Hat Marilena gesagt. Das hast du nicht geahnt, was?«
Schweigen. Sandra hat es offenbar die Sprache verschlagen. Nelly nutzt die Gelegenheit, ihr eine gute Nacht zu wünschen und das Telefonat zu beenden. Für heute Abend reicht es mit der Familie Pisu und ihrer nahen und fernen Verwandtschaft. Wieder klingelt das Telefon. O nein, nicht du, Tano, bitte! Lasst mich doch alle in Ruhe.
»Na, Tano, was gibt’s? Wenn du mich anrufst, heißt das wohl, dass deine Freundin Anita nicht in der Nähe ist und du reden kannst, stimmt’s?«
Schweigen.
»Zwischen Anita und mir ist es aus. Zufrieden?« Nelly spürt, wie die Wut ihr rot in die Wangen steigt. Ihre Hand, die das Handy hält, beginnt zu zittern.
»Was soll das heißen, zufrieden? Machst du Witze? Das ist deine Sache, ich hab dich um nichts gebeten.«
»Das weiß ich sehr gut. Ich bin derjenige, der ihren Ausschließlichkeitsanspruch nicht mehr ertragen hat, vor allem, weil ich eine andere im Kopf habe.«
»Und, ist das etwa meine Schuld?«
»Schuld oder Verdienst, was weiß ich? Wir sehen uns morgen im Büro, Nelly. Schlaf gut.«
Mit einem Kloß im Hals steht Nelly da und starrt auf das Telefon, das in ihrer Hand erlischt. Am meisten ärgert sie, dass sie es wirklich ist: zufrieden. Sie ist drauf und dran, eine Selbstanalyse zu starten, da packt sie jemand am Arm und lässt sie zusammenfahren. Vor ihr steht Giancarlo Pisu, der sie um ein paar Zentimeter überragt. Seine Augen sind eingefallen, sein Mund verzerrt. Eine äußerst unangenehme Begegnung in der bereits dunklen und fast menschenleeren Via Balbi.
»Sie sind Polizistin, richtig?« Das Sprechen scheint ihm Mühe zu bereiten. Nelly versucht, keine Angst zu zeigen und einen beruhigenden Ton anzuschlagen.
»Ja, ich bin Polizeikommissarin, aber vor allem eine Freundin Ihrer Cousine Sandra. Ich bin nicht als Polizistin zu Ihnen gekommen, wieso fragen Sie?«
Giancarlo zuckt unkontrolliert mit dem Kopf. Die Hand auf Nellys Arm zittert, hält sie aber fest wie eine Schraubzwinge. Sie beißt die Zähne zusammen und versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
»Fühlen Sie sich nicht gut? Kann ich etwas für Sie tun?«
Der junge Mann schließt die Augen, und Nelly fürchtet, dass er gleich kollabiert, doch stattdessen atmet er mehrmals tief durch, ehe er wie aus einem Traum aufzuschrecken und zu begreifen scheint, wo er ist und mit wem.
»Es ist nur, dass ich heute ... meine Tabletten vergessen habe. Jetzt gehe ich nach Hause und nehme sie. Wenn ich die nicht nehme, dann ... Entsetzlich, wissen Sie ... etwas Entsetzliches hat man dann im Kopf, in sich drin, etwas, das einen beherrscht, in der Hand hat, und man kann nichts dagegen tun. Ich wollte Ihnen nur noch etwas über meine Familie sagen. Sie sind alle verdammt, verstehen Sie? Sie konnten es nicht sehen, doch der Satan ist unter ihnen und kontrolliert sie, jeden Einzelnen.«
Er hat seine Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt. Besorgt blickt er sich um, als fürchte er, Beelzebub höchstpersönlich müsse gleich um die nächste Ecke biegen und sich auf sie stürzen.
»Sie sind alle verdammt, jeder mit seiner Strafe. Ich habe meine im Kopf, doch wenigstens weiß ich Bescheid, sie hingegen wissen nicht, dass sie Kreaturen des Teufels sind, sie sind ... seine Diener. Ich muss gehen, ich wollte Ihnen nur sagen, dass der Satan kein Fall für die Polizei ist, hehehe ...«
Hysterisch lachend löst Giancarlo Pisu seinen Griff und macht sich im nächsten Moment Richtung Trogoli di Santa Brigida davon, biegt um die Ecke und ist aus Nellys Blickfeld verschwunden. Mechanisch massiert sie sich den schmerzenden Arm. Total durchgeknallt, der arme Junge. Ob er seinen Vater umgebracht haben könnte? Hm. Rivelli wird sich schon schlau gemacht haben, wo er war, als der Vater die Treppe hinabgestürzt ist.
Gedankenversunken setzt Nelly ihren Heimweg fort und merkt nicht, dass ein undeutlicher Schemen hinter ihrem Rücken die Gassen entlanghuscht. Ein Schatten, der sie begleitet, bis sie die Haustür aufschließt und darin verschwindet.
VI
Der Montag verging mit dem üblichen Verwaltungskram, der naturgemäß nicht sonderlich geeignet war, Nelly aus ihren Gedanken zu reißen. Manchmal hatte sie den Eindruck, ihre Fähigkeit, sich zweizuteilen, mache einem orientalischen Guru inzwischen alle Ehre: Sie konnte ihre Pflicht tun, Anträge stellen, Briefe unterschreiben, Ordner durchackern, Anweisungen geben,
Weitere Kostenlose Bücher