Der Fluch vom Valle della Luna
gar nicht gedacht. Marilena ist wahnsinnig nervös geworden, aber ich hab die immer nur für einen Scherz gehalten. Oder für eine harmlose Gemeinheit. Manche Leute sind eben böse und neidisch. Wer könnte denn etwas gegen uns haben wollen?«
»Genau das würden wir gerne herausfinden. Haben Sie vielleicht eine Idee, wer Ihren Brüdern, Ihrem Vater oder Ihnen etwas Böses wollen könnte?«
Magraja hob abwehrend Hand und schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, ganz und gar nicht. Sie kennen unsere Familie nicht, Dottoressa. Wir sind ein Herz und eine Seele, und unser Vater war einfach so ...«, sie suchte nach dem richtigen Wort. »Er war perfekt. Das hatte vielleicht nicht immer den Anschein, und meine Brüder konnten manchmal ein wenig extravagant oder hochnäsig wirken, aber sie waren herzensgute Menschen, die einander und uns Schwestern sehr nahestanden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie gehasst haben könnte, auch wenn sie da draußen in der Welt – in der Arbeitswelt«, verbesserte sie sich, »vielleicht den einen oder anderen vor den Kopf gestoßen haben. Aber davon weiß ich nichts. Sie wussten eben genau, was sie wollten. Damit meine ich natürlich Alceo, denn bei Anselmo war es doch ein Unfall, nicht wahr?«
Sie sah Nelly fragend an. Beim Reden hatten sich ihre fahlen Wangen gerötet, als hätte ein Maler einer Wachsfigur zwei kräftige Pinselstriche verpasst. Nelly ließ nicht locker.
»Kein unbekannter Feind? Seltsame Anrufe? Es sind keine weiteren Drohbriefe gekommen? Ganz sicher?«
Wieder schüttelte Magraja energisch den Kopf. Das schwarze Haarband hatte sich gelöst, ein paar Strähnen umrahmten weich ihr Gesicht.
»Sie sind die Jüngste, richtig? Das Nesthäkchen, nehme ich an?«
Ihre Wangen röteten sich noch mehr. Der Anflug eines Lächelns huschte wie ein Lichtstrahl über ihre Züge.
»Na ja, schon, Anselmo war zweiundfünfzig, Marilena ist fünfzig, Alceo«, sie hielt betrübt inne, «wäre in einer Woche siebenundvierzig geworden. Ich war eine Überraschung, sagte meine Mutter immer. Ein echter Nachzügler, ich bin gerade vierzig geworden.«
Verschämt wie ein kleines Mädchen senkte sie den Kopf. In was für einer Welt lebt die Ärmste denn? Ist hier lebendig mit der bettlägerigen Mutter begraben, Bruder und Schwester halten sie für bekloppt, der Vater hat ihr, gemessen am Familienvermögen, einen Furz hinterlassen, und sie glaubt, sie ist Teil der Musterfamilie.
»Was wussten Sie über das Leben Ihres Bruders Alceo?«
Magraja zog die Schultern hoch und breitete die Arme aus.
»Wo ich doch hier kaum herauskomme? Nichts. Das, was ich in der Zeitung gelesen habe oder was er so erzählt hat, wenn er uns mal besuchen kam. Dass Sofia ihn mit ihrer Eifersucht zur Weißglut trieb, dass sie ihn einmal mit einer Nagelschere an der Hand verletzt hat.«
Nelly horchte auf.
»Signorina Lebeau hat ihn verletzt? Hat Ihr Bruder sie angezeigt?«
»Ach wo, er hat gelacht, er meinte, er fände es toll ... bis aufs Blut geliebt zu werden.«
Als sie merkte, was sie gesagt hatte, fuhr sie erschrocken zusammen.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, piepste sie weinerlich, »Marilena sagt immer, ich soll erst mal das Gehirn einschalten, bevor ich den Mund aufmache. Aber ich hab mich noch nie gut konzentrieren können, schon in der Schule nicht.«
Nelly machte eine beschwichtigende Handbewegung.
»Auf welchen Schulen waren Sie, Magraja?«
Verlegen rutschte sie auf ihrem Sesselchen hin und her und strich sich mit verschwitzten Händen über den Rock.
»Ich war auf dem Duchessa di Galliera. Aber ich hab die erste Klasse ein paar Mal wiederholt und keinen Abschluss gemacht.«
Ihre Stimme war tonlos, der Kopf gesenkt. Das Haar fiel ihr vors Gesicht, doch sie schien es nicht zu bemerken. In dem Moment huschte ein Schatten an der Tür vorbei. Gerolamo sprang auf und schoss auf den Flur hinaus.
»Verzeihung, ist außer Ihnen sonst noch jemand hier? Wer?«
»Oh, das ist nur Celeste, die Krankenschwester. Ich habe sie kommen lassen, damit wir uns ungestört unterhalten können, und jetzt habe ich Ihnen noch nicht einmal was zu trinken angeboten.«
Magraja hatte wieder den gewohnten weinerlichen Tonfall angenommen. Unterdessen hatte die Frau, die lautlos an der Tür vorbeigegangen war – Ob die uns belauscht hat? – , das Zimmer betreten. Sie war so groß wie Nelly, kräftig, um die fünfundvierzig, hatte kurzes, dunkelblondes Haar und wachsame braune Augen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie
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