Der Fluch vom Valle della Luna
so energisch, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Gerolamo hatte sich kaum auf den Beifahrersitz gehockt, als Nelly auch schon aufs Gas trat. Es herrschte einiger Verkehr, doch man kam voran.
Nelly fuhr Richtung Corso Andrea Podestà und folgte der Umgehungsstraße am Meer entlang bis zur Via Andrea D’Oria, die zur Stazione Principe führte. Sie fuhr schnell, überholte so oft sie konnte und häufig ziemlich gewagt, derweil Gerolamo reglos neben ihr saß und aus dem Fenster blickte. Die Gründe für die Gemütszustände der Kommissarin hatten ihn nicht zu interessieren, und er hütete sich davor zu fragen, was vorgefallen war. Nelly bog auf den Bahnhofsvorplatz ein, parkte im Halteverbot, legte die Polizeiplakette in die Windschutzscheibe und schlug die Tür zu. Dann endlich fiel ihr Blick auf Gerolamo, der ganz in die Betrachtung der Bahnhofsfassade versunken zu sein schien. Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte ihre rote Mähne und verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Also, Gerolamo, diese Pisus sind ein echtes Kreuz. Offenbar hat irgendjemand denen was angehext oder sie mit dem ogu malu belegt, wie man in Sardinien sagt, und jetzt werden sie’s nicht mehr los. Und wir auch nicht.«
»Ich bin im Bilde, Dottoressa.«
Gerolamo warf ihr einen verstohlenen Blick zu, um zu kontrollieren, ob alles wieder im Lot war oder ob er sich noch auf etwas gefasst machen musste. Doch Nelly schien wieder ganz die Alte zu sein.
»Ich bin froh, dass du heute auch dabei bist, denn bei dieser Geschichte passt nichts zueinander.«
Rasch fasste sie die Geschehnisse für ihn zusammen, während sie die Via Balbi entlanggingen. Sie sah Gerolamo beim Reden nicht an und musterte flüchtig die Passanten, die zu dieser Stunde die Straße bevölkerten: Studenten, Immigranten, elegante Signoras. Die Läden hatten gerade wieder geöffnet, und Nelly steuerte auf eine Bar an der Straßenecke zu.
»Ich brauche einen Kaffee, Gerolamo. Die Runde geht auf mich, keine Widerrede.«
Nelly hatte zwei Espressi bestellt und griff nach einer Scheibe Focaccia mit Oliven, die appetitlich in der gläsernen Vitrine lag.
»Möchtest du auch was essen?«
»Nein danke, Dottoressa. Diese Geschichte mit den Pisus, das sind wirklich ganz schön viele Zufälle auf einmal. Und die einzige Verbindung sind die anonymen Briefe. Eins macht mich allerdings stutzig.«
»Spuck’s aus.«
»Wenn ich mich an irgendeinem Drecksack, der mir was angetan hat, rächen will, sorg ich doch dafür, dass er weiß, dass ich es bin, der’s ihm heimgezahlt hat, oder? Darin besteht doch die Genugtuung: Pass auf, du elende Sau – Pardon, Dottoressa –, du hast mir dies und jenes getan, jetzt lass ich dich dafür bluten. Ich. Aber diese Pisus scheinen gar nicht zu wissen, wer was gegen sie hat und wieso, und bis jetzt ist noch nicht einmal klar, ob hinter diesen Unglücksfällen etwas anderes steckt oder ob es wirklich nur Unglücksfälle sind, mal abgesehen von dem Filmemacher. Wo ist denn da die Genugtuung?«
Nelly schluckte den letzten Bissen Focaccia hinunter. Sie dachte über den für Gerolamos Verhältnisse langen und zweifellos interessanten Vortrag nach. Der Rächer im Verborgenen.
»Du hast recht. Wenn derjenige, der mir etwas angetan hat, nicht weiß, dass ich es ihm heimzahle, was habe ich dann davon? Du glaubst also nicht, dass die anonymen Briefe was damit zu tun haben?«
»Das ist nicht gesagt. Ich glaube eher, dass die Pisus wissen oder zumindest ahnen sollten, weshalb jemand sie ins Fadenkreuz nimmt.«
»Aber sie sagen es nicht.«
»Aber sie sagen es nicht«, pflichtete Gerolamo ihr bei und stellte die leere Espressotasse auf die Untertasse zurück. Nelly musterte das hagere, dunkle Gesicht und die tiefliegenden, durchdringenden schwarzen Augen ihres Assistenten. Gerolamo redete nicht viel, aber wenn er etwas sagte, lohnte es sich zuzuhören.
Sie zahlten und verließen schweigend das Lokal. Nelly war gespannt, welchen Eindruck das Spukschloss der Pisus auf ihren Assistenten machen würde und was er von Magraja hielte. Aus diesem Grund hatte sie ihn nicht weiter auf das Treffen vorbereitet. Nelly hielt viel von den Eindrücken ihrer Mitarbeiter, insbesondere von denen Gerolamos. Sie bogen nach links in die Salita Santa Brigida ein und standen im nächsten Augenblick vor der Festung, in der sich wie in einem gepanzerten Schrein die Wohnung der Familie Pisu befand. Sie schielte zu Gerolamo hinüber, der das riesenhafte Tor jedoch lediglich mit
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