Der Fluch vom Valle della Luna
sie dort getroffen hatte, von der Apothekerin Nedda Secci, Signora Amalia und Filippo De Magistris, der sich an seinen Unfall nicht mehr erinnern konnte. Von den Sogos-Brüdern und ihren Vermutungen sprach sie indes nicht. Sandra hörte aufmerksam zu.
»Was meinst du, sollte ich vielleicht eine kleine Reise dahin unternehmen? Es ist so viel Zeit vergangen, wer soll sich an uns noch erinnern? Vielleicht miete ich für den Sommer ein Ferienhaus an der Küste und mache einen Abstecher nach Luras, um meine Wurzeln zu ergründen. Hast du nachgesehen, ob die Ächtungsliste noch an der Kirchentür hängt?«
Nelly grinste.
»Du solltest dich dort besser nicht blicken lassen. An der Kirchentür hing ein Foto von dir mit der Aufschrift: 100 000 Euro Belohnung, tot oder lebendig. Aber wenn du unbedingt deine Wurzeln ergründen willst, nur zu, vielleicht siehst du sie ja von unten wachsen.«
Sandra sah sie ungläubig an. »Lügnerin!«, lachte sie dann, dennoch leicht verunsichert.
»Du glaubst mir nicht? Na, dann fahr doch hin und überzeug dich selbst.«
VII
Piazzetta Tavarone, feucht vom elenden Nieselregen, der bis auf die Knochen drang und den Genuesern zu schaffen machte. Dabei war schon Ostern! Nelly drückte die Klingel der Detektei, und die Tür sprang auf. Nachdenklich stieg sie die Treppe hinauf. Seit auch die Fahrt nach Sardinien zu keinem konkreten Ergebnis geführt hatte, trug sie ein ungutes Gefühl des Scheiterns mit sich herum, den Eindruck, einer richtigen Spur vergeblich gefolgt zu sein. Selbst angenommen, Giacomo Pisu und die beiden Seccis wären in die Kindesentführungen verwickelt gewesen, wie soll man das beweisen, jetzt, wo alle tot sind oder Alzheimer haben? Und wer könnte beschlossen haben, sich nach so langer Zeit für eine Verfehlung Giacomos zu rächen? Die einstigen Komplizen bestimmt nicht. Boboi Sogos? Der lebt als Eremit im Garten Eden und scheint das Dorf tatsächlich seit Ewigkeiten nicht mehr verlassen zu haben. Zwar war das, was ich an jenem Abend in die Nase bekommen habe, derselbe Schafsgeruch wie bei ihm, aber woher hätte er von mir wissen sollen, wir waren ja gerade erst angekommen. Sackgassen in alle Richtungen. Sie drückte die Tür zu Basiles Büro auf, wild entschlossen, ihren Frust zusammen mit ein paar Scheiben Salbei-Focaccia mit dem Ex-Brigadiere zu teilen. Doch Basile war nicht da. Stattdessen saß ein gutaussehender, dunkelhaariger junger Mann an seinem Schreibtisch, den sie bisher nur bewusstlos im Krankenhaus gesehen hatte.
»Guten Tag. Sie müssen Filippo De Magistris sein. Ich bin Kommissarin Nelly Rosso.«
Der junge Mann war aufgesprungen und hielt ihr lächelnd die Hand hin.
»Dottoressa Rosso, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Basile redet oft von Ihnen, und ich habe mich schon gefragt, wann wir uns endlich einmal begegnen würden. Kommen Sie, setzen Sie sich, der Brigadiere sollte gleich wieder hier sein, er hatte noch das eine oder andere zu erledigen, aber er ist schon über eine Stunde weg. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder einen Cappuccino anbieten?« Stolz deutete er auf eine brandneue Kaffeemaschine. Nelly setzte sich lächelnd.
»Einen Kaffee nehme ich immer gern. Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen und ein bisschen mit Ihnen plaudern zu können, Filippo. Darf ich Sie so nennen?«
»Aber sicher, Dottoressa.«
Er hatte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen gemacht, die wenig vertrauenerweckende Geräusche von sich gab. Nelly musterte ihn verstohlen. Er war rund eins achtzig groß, schlank und muskulös. Dichtes schwarzes Haar, braune Augen, ebenmäßige Züge – ein hübsches Kerlchen. Sicher ein Mädchenschwarm. Er reichte ihr ein Plastiktässchen und zwei Zuckertütchen und nahm ebenfalls mit einem Plastiktässchen zwischen den Fingern Platz.
»Wie unaufmerksam! Möchten Sie ein wenig Milch?«
»Sehr gern, danke.«
Er zog eine Schublade unter der Kaffeemaschine auf, in der winzige Behälter mit Kondensmilch lagen. Nelly wickelte die Focaccia aus.
»Die habe ich für den Brigadiere mitgebracht, aber es reicht für uns alle.«
»Salbei-Focaccia, super«, rief er mit fast kindlicher Begeisterung aus. Nelly hatte sofort das Gefühl, ihn schon lange zu kennen.
Während sie ihr zweites Frühstück genossen, sprachen sie über Filippos Unfall in Sardinien.
»Das ist wirklich total komisch, als hätte man mir eine Scheibe meines Gedächtnisses herausgeschnitten. Ich erinnere mich, wie ich in Olbia aus dem Flugzeug gestiegen bin, ein
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