Der Fluch vom Valle della Luna
Auto gemietet habe, nach Tempio gefahren und im Krankenhaus wieder aufgewacht bin. Dazwischen ist ein Loch, das ich einfach nicht füllen kann. Keine Ahnung, wie und weshalb ich ins Valle della Luna geraten bin, ob ich allein oder in Begleitung war. Nichts, so sehr ich mir auch das Hirn verrenke. Es ist zum Verrücktwerden.« Er machte ein verzweifeltes Gesicht.
»Sie dürfen sich nicht dazu zwingen, Filippo. Die Erinnerungen kommen nach und nach von allein zurück.«
»Wollen wir’s hoffen. Es tut mir leid, dass ich bisher nichts zu den Ermittlungen beitragen konnte. Für einen Anfänger wie mich ist die ganze Sache ein faszinierendes Puzzle.« Er griff nach einer zweiten Scheibe Focaccia. Armer Basile. Wenn er sich nicht beeilt, bleibt kein Krümel mehr übrig.
»Nicht nur für einen Anfänger, glauben Sie mir. Und ein äußerst vertracktes dazu, weil so viele der damals Beteiligten nicht mehr am Leben sind, und die, die noch da sind, sich in Schweigen hüllen. Wie geht es Ihrem Klienten Giancarlo Pisu?«
Filippo schüttelte den Kopf.
»Unverändert. Vollgestopft mit Medikamenten und depressiv. Ich glaube, es ist dem völlig schnuppe, ob er verurteilt wird oder nicht, seine Strafe hat er bereits bekommen.«
»Das fürchte ich auch. Studieren Sie noch, Filippo?«
Leicht perplex ob des plötzlichen Themawechsels blickte der Junge sie an.
»Ich? Ja, Jura. Es dauert etwas länger, weil ich nebenbei arbeite, aber in ein paar Jahren bin ich hoffentlich fertig.«
»Basile hat mir erzählt, dass Sie Waise sind.«
Ein Schatten legte sich über Filippos Gesicht.
»Es tut mir leid, ich wollte nicht ...« Doch er hatte sich schon wieder im Griff.
»Ach, kein Problem, Dottoressa Rosso. Mein Vater ist gestorben, da war ich noch ein Baby, und meine Mutter, als ich sieben war. Ich hab alles meiner Großmutter zu verdanken, sie hat mich großgezogen. Ich beklage mich nicht, inzwischen kann ich bestens für mich selbst sorgen, auch wenn es schmerzhaft war, sie auch noch zu verlieren. Sie ist vor ein paar Monaten an einem Tumor gestorben.« Er sah weg, um Nelly seine Trauer nicht zu zeigen.
Der Arme. Ein tapferer Junge. Während Nelly noch vergeblich überlegte, was sie darauf erwidern konnte, klingelte es. Offenbar ein Kunde. Nelly stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Sie haben gewiss zu tun. Ich auch. Grüßen Sie mir den Brigadiere, ich schaue bald wieder vorbei.«
Filippo drückte ihr die Hand. Auf dem Weg zur Tür traf Nelly auf Signor Pizzi, Marilena Pisus Mann, der genauso erstaunt dreinblickte wie sie, mit einem hastigen Nicken grüßte und in Basiles Büro verschwand. Nachdenklicher als zuvor schlenderte sie die Treppe hinab.
Wieso war es Signor Pizzi so unangenehm gewesen, sie dort zu treffen? Im Grunde war es doch ziemlich naheliegend, dass Marilenas Mann in der Detektei aufkreuzte, die von der Familie beauftragt war, im dem Neffen angelasteten Mordfall zu ermitteln. Und wenn er nicht wegen des Neffen dort gewesen war, sondern in eigener Sache? Wie immer, wenn es um die Pisus ging, gab es Fragen über Fragen. Die Antwort war immer die gleiche: Valeria. Sie sollte die finanzielle Situation des Paares und das Leben des Signor Pizzi ein wenig unter die Lupe nehmen.
Während sie scheinbar ziellos durch die Gassen der Altstadt streifte, wurde sie wie von einer höheren Macht in die Via del Campo gezogen. Vor Claire Ngoros Wohnhaus blieb sie stehen. Ihre Madame Claire. Sie klingelte, und die Tür sprang auf. Während sie das heruntergekommene Treppenhaus erklomm, überfiel sie die Erinnerung an den Sommer und an die Ströme von Blut, die Genua überschwemmt hatten. An die beiden Männer, die, besessen von ihrem Wahn, immer und immer wieder unschuldige Menschen und vor allem Frauen abgeschlachtet hatten. Sie versuchte, die Panik, die diese Erinnerungen in ihr auslösten, zu unterdrücken und stieß die angelehnte Wohnungstür auf.
Verblüfft schaute sie sich um. Der Eingang hatte sich in ein Warenlager verwandelt. Überall standen bunte Stoffrollen sowie Kisten mit Halsketten und Schmuckstücken aus Knochen, Perlen, Muscheln und Halbedelsteinen herum. Zwei farbige junge Mädchen blickten sie fragend an. Eine erkannte sie.
»Guten Tag, Signora Nelly, suchen Sie Madame ?«
»Grüß dich, Georgette. Ja, die suche ich, aber was ist denn hier los?«
Madame Claire kam hinter dem Vorhang hervor, der die großzügige Diele vom Rest der Wohnung trennte. Sie hatte Kleider aus den ausliegenden Stoffen über dem
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