Der Fluch vom Valle della Luna
Anweisung: »Die Signora bekommt nur Orangenlimonade und Grapefruitsaft.«
Alice reagiert nicht, ist völlig abwesend, wie ferngesteuert. Ein eilfertiger Kellner gießt ihr einen Grapefruitsaft ein und drückt ihn ihr in die Hand. Kopfschüttelnd setzt sie sich auf ein Sofa.
Nach und nach kommen die Gäste miteinander ins Gespräch, und schon bald hallt der Raum von Stimmen und vereinzeltem, gedämpftem Gelächter wider. Der neuerliche Sieg des Lebens über den Tod, denkt Nelly und stellt fest, dass jetzt sogar Serena mit Marco spricht, der sie zu ein paar Bissen überreden konnte und endlich mit einem blassen Lächeln belohnt wird.
»Ach, Nelly, wer hätte gedacht, dass sich die Dinge so entwickeln würden, damals an jenem Januartag im Caffè degli Specchi, als ich dir zum ersten Mal von meinen Verwandten und den anonymen Briefen erzählte.«
Sandras Stimme reißt Nelly aus ihren Beobachtungen.
»Vielleicht hat es sich jemand gedacht, aber nicht darüber geredet. Was meinen Sie, Dottoressa?« Nelly hat den Ball im Flug gefangen und an Marilena weitergegeben, die gerade mit einem Champagnerglas in der drallen Hand an ihnen vorbeigeht.
»Entschuldigen Sie, Nelly. Ich habe nicht mitbekommen, worüber Sie gerade mit Sandra geredet haben.« Sie sieht Nelly mit unschuldigen Augen an. Lügnerin, du hast uns belauscht.
»Ich sagte, dass vielleicht jemand vorhergesehen hat, dass Ihrer Familie diese schrecklichen Dinge zustoßen würden, schon damals, als Sandra mir von den anonymen Briefen erzählt hat. Und jetzt ist es zu spät.« Sie sieht Marilena in die Augen, die noch immer nicht zu verstehen scheint und die Anschuldigung einfach übergeht.
»Kommen Sie, Nelly, ich stelle Ihnen meine Tochter Susanna vor. Sie arbeitet für ein weltbekanntes amerikanisches Pharmaunternehmen.«
Sie zieht Nelly zu der großen, langgesichtigen Frau mit den dunklen Augen, die sich gerade über das Vitello Tonnato hermacht.
»Susanna, das ist Nelly Rosso, die Kommissarin, die sich mit Onkel Alceos Tod befasst und auch mit Giancarlos Fall. Sie ist eine gute Freundin von Cousine Sandra.«
Susanna hält ihr eine kalte Hand hin, während sie in der anderen ein Tellerchen samt Besteck und Champagnerflöte balanciert. Marilena lässt die beiden allein.
»Dottoressa Rosso ... vom Schicksal in diese seltsame Familie katapultiert. Sind Sie schon traumatisiert?« Sie grinst unangenehm.
»Nun, das Trauma ist wohl ganz auf Ihrer Seite, Dottoressa Pizzi, und die Verluste ebenfalls. Wir von der Polizei haben leider oft mit traurigen oder tragischen Fällen zu tun, das ist unser Job.«
»Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie uns für eine ganz normale Familie halten?«
»Normal? Da müssten wir uns zuerst über die Definition von ›normal‹ einigen, Dottoressa. Aber sagen Sie mir lieber, weshalb Sie Ihre Familie nicht für normal halten?«
Susanna starrt sie ungläubig an.
»Sie wollen mir weismachen, Sie hätten nicht bemerkt, dass meine Angehörigen allesamt Psychopathen wie aus dem Lehrbuch sind? Und ich meine nicht nur den armen Giancarlo, bei dem es am offensichtlichsten war. Wäre ich geblieben, hätte ich ihm vielleicht helfen können ...«
Sie blickt ins Leere, in die Vergangenheit. Dann schüttelt sie den Kopf.
»Nein, das hätte auch nichts gebracht, ich wäre nur selbst verrückt geworden. Ich musste meine Haut retten. Und kaum bin ich hier, habe ich auch schon wieder das Gefühl zu ersticken. Zum Glück steige ich morgen wieder in den Flieger und verschwinde.« Sie stürzt den Champagner herunter. Nelly ist neugierig geworden.
»Ihr Cousin Giancarlo hat ihre Verwandten als ›Verdammte‹ bezeichnet. Haben Sie eine Ahnung, was der Grund für dieses wenig schmeichelhafte Etikett sein könnte?«
Zu Nellys Überraschung fängt die Frau an zu lachen.
»Ah, das ist typisch Gianca. Er war so ein netter Junge ...« Sie senkt den Blick, fängt sich wieder. »In gewissem Sinne hatte er recht. Wenn man unter Verdammten Menschen versteht, die dazu verurteilt sind, eine schreckliche Last mit sich herumzuschleppen, von der sie sich nicht befreien können, dann hat er wohl den Nagel auf den Kopf getroffen.« Nelly mustert sie eindringlich.
»Für gewöhnlich haben sich Verdammte durch irgendein Vergehen ihr schweres Schicksal selbst eingehandelt.«
Susanna nickt kurz.
»Ich hatte immer den Verdacht, dass der Ursprung allen Übels bei meinem Großvater Giacomo liegt. Er war ein gnadenloser Tyrann. Doch der Apfel fällt nicht weit vom
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