Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
entgegnete David streng. Plötzlich war ihm diese Begegnung mit der Vergangenheit unbehaglich.
Joss las weiter. »Mary Sarah, geboren am 2. Juli 1864. Heirat mit John Bennet im Frühjahr 1893. Unser Erstgeborener, Henry John, kam am 12. Oktober 1900 zur Welt – das muß sie geschrieben haben. Unsere Tochter Lydia – das ist wohl meine Großmutter – wurde 1902 geboren, und dann, oh …« Joss hielt kurz inne. »Der kleine Henry John ist 1903 gestorben. Er war nur drei Jahre alt. Der Eintrag ist in einer anderen Handschrift. Der nächste stammt vom 24. Juni 1919. Im Jahr 1903, drei Monate nach dem Tod unseres Sohnes Henry, ist mein Ehemann John Bennet verschwunden. Ich rechne nicht mehr mit seiner Wiederkehr. An diesem Tag hat meine Tochter Lydia Sarah Samuel Manners geehelicht, der an seiner Statt nach Belheddon kommt.«
»Das klingt etwas rätselhaft.« Gebannt setzte Luke sich ihr gegenüber; sein Interesse war erwacht. »Und was kommt dann?«
»Unser Sohn Samuel wurde am 30. November 1920 geboren. Drei Tage später starb meine Mutter Mary Sarah Bennet an der Grippe.«
»Unglaublich.« David schüttelte den Kopf. »Das ist ja wie ein Schnellkurs in Sozialgeschichte. Vielleicht hat das Ende der Grippe-Epidemie, die nach dem Ersten Weltkrieg grassiert ist, sie erwischt. Die arme Frau. Wahrscheinlich hat sie ihren Enkel nie zu Gesicht bekommen.«
»Mich würde interessieren, was mit dem armen, alten John Bennet passiert ist.« Luke lehnte sich nachdenklich in seinem Stuhl zurück.
»Im Arbeitszimmer liegt ein Brief«, sagte Joss langsam. Ihr war plötzlich etwas anderes eingefallen. »Ein Brief von Lydia an ihren Cousin John Duncan, in dem sie ihm von der Geburt ihres Sohnes erzählt. Sie muß das sofort geschrieben haben, noch bevor sie wußte, daß ihre Mutter todkrank war.« Sie sah wieder auf die Einträge in der Bibel. »Sie hat noch drei Kinder bekommen – John, Robert und Laura, meine Mutter. Alle im Abstand von zwei Jahren. Und dann …« Sie brach erneut ab. »Ach«, fuhr sie dann fort, »im Jahr nach Lauras Geburt ist sie selbst gestorben. Da war sie erst dreiundzwanzig!«
»Wie traurig.« Luke drückte ihre Hand. »Aber das war alles vor langer, langer Zeit, Joss. Du darfst dich nicht davon deprimieren lassen.«
Sie lächelte. »Das tue ich auch nicht. Es ist nur alles so seltsam. Ihren Brief in der Hand zu halten und zu lesen. Das bringt sie mir irgendwie näher.«
»Wahrscheinlich liegen im Haus noch viele Briefe und Dokumente der Familie«, meinte David. »Vom Blickwinkel eines Historikers aus betrachtet ist es großartig, daß deine Mutter alles so hinterlassen hat, wie es war. Phantastisch. Es muß auch Bilder von diesen Leuten geben, gemalte Porträts, Fotos, Daguerreotypien. « Er kippte mit dem Stuhl nach hinten und hielt sich mit den Fingerspitzen an der Tischplatte fest. »Du solltest einen Stammbaum anlegen.«
Joss lächelte. »Das wäre interessant. Vor allem für Tom-Tom, wenn er älter ist.« Kopfschüttelnd blätterte sie zu den Vorsatzpapieren zurück, auf denen die Einträge in kursiver Handschrift und braun verfärbter Tinte großzügig die Seiten füllten. Ihr fiel auf, daß die Daten der ersten vier Generationen in derselben Schrift gehalten waren – vielleicht hatte jemand sie alle nachgetragen, als die neue Bibel angeschafft worden war. Aber danach war jedes neue Jahr, jede neue Generation, jeder neue Familienzweig in einer unterschiedlichen Schrift geschrieben, und jedesmal war es ein neuer Name. »Ich könnte mit diesen Namen in die Kirche gehen und herausfinden, wie viele von ihnen dort beigesetzt sind«, sagte sie. »Ich würde wirklich gerne wissen, was mit John Bennet geschehen ist. Er wird nicht mehr erwähnt. Ob sie ihn wohl hier begraben haben? Vielleicht hatte er einen Unfall.«
»Vielleicht ist er ermordet worden«, grinste Luke. »Nicht jeder in dieser Bibel kann eines natürlichen, sanften Todes gestorben sein…«
»Luke!« Joss’ Zurechtweisung wurde von einem wütenden Weinen aus dem Babyphon unterbrochen.
»Ich gehe.« Luke war bereits aufgestanden. »Ihr zwei könnt die Bibel wegräumen und euch schon mal Gedanken übers Abendessen machen.«
Joss schloß das schwere Buch und verzog sorgenvoll das Gesicht, als das Schluchzen immer lauter wurde. »Ich sollte gehen …«
»Luke kommt schon zurecht.« David legte ihr eine Hand auf den Arm und ließ sie einen Augenblick zu lange dort liegen, bevor er sie hastig zurückzog. »Joss, paß auf, daß du
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