Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
Abendessen. Wo ist Lyn?«
Achselzuckend trat Luke näher und versetzte seinem Sohn spielerisch einen Fausthieb. »Alles in Ordnung, alter Junge?« Dann sah er zu Joss. »Und bei dir auch?« Er streichelte ihre Wange. »Geht’s dir immer noch schlecht?«
Joss zwang sich zu einem Lächeln. »Nur ein bißchen müde.«
Etwas später ging Joss mit Tom, frisch gewickelt und adrett in einer sauberen Latzhose und einem von seiner Großmutter handgestrickten Streifenpullover, ins Arbeitszimmer. Dort setzte sie ihn auf den Boden und gab ihm vom Sekretär einen Behälter mit Stiften zum Spielen. Dann nahm sie am Sekretär Platz und holte ihr Notizbuch hervor. Auf dem Beistelltisch stand Lukes kleiner Computer. Die Datei mit dem Titel Sohn des Schwertes enthielt bereits mehrere Seiten mit Charakterstudien und den Anfang eines Exposés. Ohne etwas wahrzunehmen, starrte sie auf die Seiten ihres Notizbuchs und dann wieder auf den leeren Bildschirm. Eigentlich wollte sie an ihrer Geschichte weiterarbeiten, aber dann fiel ihr wieder die Familienbibel in dem Eckregal ins Auge. Resigniert seufzend klappte sie das Heft zu. Sie wußte, daß sie sich nicht auf den Roman konzentrieren konnte; zuerst mußte sie sich noch etwas in die Geschichte vertiefen, die die Vorsatzblätter der großen, alten Familienbibel enthielten.
Sie nahm das Buch aus dem Regal, legte es auf den Schreibtisch und schlug es auf.
Lydia Sarah Bennet heiratete Samuel Manners im Jahr 1919. Sie hatten vier Kinder. Baby Samuel starb drei Monate nach der Geburt 1920; John, der im folgenden Jahr zur Welt kam, starb 1925 im Alter von vier; Robert, geboren 1922, starb mit vierzehn Jahren; und Laura, ihre Mutter, Jahrgang 1924, starb 1984 im Alter von sechzig Jahren. Lydia war 1925 gestorben. Joss biß sich auf die Unterlippe. Die Einträge im Tagebuch waren also nur wenige Monate vor ihrem Tod geschrieben worden.
Sie schluckte. Die verblichene Tinte war verwischt, und an manchen Stellen hatte der Füller gekleckst. Langsam schloß sie das Buch wieder.
»Mummy. Toms Abendessen.« Das bange Stimmchen vom Teppich drang nur langsam in ihr Bewußtsein vor. Tom saß auf dem Teppich vor dem Kamin und sah zu ihr auf. Sein Gesicht war über und über mit lilafarbener Tinte verschmiert.
»O Tom!« Entnervt nahm sie ihn in die Arme. »Du bist schrecklich. Wo hast du den Füller gefunden?«
»Toms Farben«, widersprach er heftig. »Tom macht Bilder.« In der Faust hielt er einen dünnen Füllfederhalter umklammert, der sehr alt war, wie Joss auf den ersten Blick erkannte. Die Tinte mußte schon längst vertrocknet sein, also konnte die Farbe auf Toms Gesicht nur von der Feder stammen, an der er wohl gelutscht hatte. Sie hob ihn sich auf den Schoß … Abgesehen von ihm … Die Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Abgesehen von ihm … Meine Angst macht ihn stärker. Diese Zeilen hatten zwei Frauen im Abstand von über fünfzig Jahren in ihre Tagebücher geschrieben, zwei Frauen, die von etwas in diesem Haus in extreme Furcht versetzt wurden. Zwei Frauen, die in der Kirche und im Weihwasser Schutz gesucht, deren Hoffnungen sich aber alle zerschlagen hatten.
Als Joss ihren Sohn durch den großen Saal trug, schaute sie zum Christbaum. Mittlerweile war er mit silbernen Kugeln geschmückt, mit langen, glitzernden Fäden silberner Spinnweben und Dutzenden kleiner bunter Lichter; wie ein Talisman stand er in der Ecke des Raums. Sie und Luke hatten bereits einen Stapel Päckchen darunter gelegt, einschließlich der zwei Geschenke
von David. Morgen würden Alice und Joe kommen und einen weiteren Berg mitbringen. »Tom Baum sehen.« Kaum hatte sie ihn abgesetzt, rannte er in die Ecke und deutete mit seinem pummeligen Finger auf die Spitze des Baums. »Toms Engel!«
»Toms Engel. Er beschützt uns«, stimmte Joss zu. Luke hatte den kleinen Jungen hochgehoben, damit er die Baumspitze bewundern konnte, die wunderschöne kleine Puppe mit den glitzernden, gefiederten Flügeln, die Lyn gemacht hatte. »Bitte«, murmelte sie ganz leise, als Tom staunend und mit offenem Mund unter den ausladenden Ästen stand, »möge er uns beschützen. «
Sie saßen gerade bei einem frühen Abendessen, als die Glocke an der Vordertür durchs Haus hallte, und fast gleichzeitig hörten sie von der Auffahrt her laute Stimmen erklingen.
»Sternsinger!« Lyn war schon aufgesprungen.
Zwanzig Minuten blieben die Besucher um den Christbaum stehen, jeder mit einem Glas Wein in der Hand, und sangen Weihnachtslieder.
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