Der Fluch Von Belheddon Hall: Roman
kahlen Zweigen der Kletterrose hockte ein Rotkehlchen. Mit seinen glänzenden schwarzen Augen schien es gebannt ins Haus zu blicken. Er hieß Richard, ihr Held, und die Tochter des Hauses, die Heldin der Kurzgeschichte, war genauso alt wie er und hieß Anne.
Georgie!
Das Rotkehlchen war auf den Fenstersims gehüpft und pickte in dem weichen Moos, das zwischen dem Stabwerk wuchs.
Georgie!
Die Stimme kam aus der Ferne. Das Rotkehlchen hörte sie. Joss sah, wie es plötzlich reglos stehenblieb, dann einmal kurz mit dem Köpfchen nickte und davonflog. Joss umklammerte den Stift. Natürlich war Richard in Anne verliebt, schon von Anfang an, aber damals war es noch die unschuldige Liebe zwischen Jugendlichen. Später, wenn die verfeindeten Parteien Zwist, Hader und Mord über das Haus brachten, würde diese Liebe durch Abenteuer und Krieg auf eine harte Probe gestellt werden.
Sie schrieb zögernd, skizzierte die erste Szene und sah unterdessen zweimal zum Fenster und einmal zur Tür, weil sie glaubte, Fußtrippeln gehört zu haben. Die Scheite im Kamin prasselten leise und behaglich, und einmal, als ein Windstoß den Kamin hinunterfegte, war der Raum erfüllt von süß duftendem Rauch.
Georgie! Wo bist du?
Diesmal klang die Stimme ärgerlich. Sie erschallte direkt vor der Tür. Mit wild klopfendem Herzen stand Joss auf und öffnete sie. Der Flur war leer, die Kellertür zugesperrt.
Sie schloß die Tür zum Arbeitszimmer wieder und lehnte sich dagegen. Natürlich hatte sie sich das alles nur eingebildet, sonst nichts. Sie war dumm. Eine Närrin. Sie ließ sich von der Stille im leeren Haus verrückt machen. Müde ging sie zum Schreibtisch zurück.
Auf ihrem Notizbuch lag eine Rose.
Erstaunt starrte sie die Blüte an. »Luke?« fragte sie. »Luke, wo bist du?«
Ein Holzscheit fiel krachend durch den Rost, und ein Funkenregen sprühte vor den rußgeschwärzten Ziegeln des Kamins auf.
»Luke, wo bist du, du Idiot?« Sie hob die Rose auf und roch daran. Die weißen Blütenblätter waren eiskalt und hatten keinen Duft. Mit einem Schaudern legte sie sie wieder hin. »Luke?« Ihre Stimme wurde dringlicher. »Ich weiß doch, daß du da bist.« Rasch ging sie zum Fenster und zog den Vorhang von der Wand. Keine Spur von Luke.
»Luke!« Sie rannte zur Tür und riß sie auf. »Luke, wo bist du?«
Es kam keine Antwort.
»Luke!« Während sie zur Küche lief, wurde der harzige Geruch immer durchdringender.
Luke stand am Waschbecken und schrubbte sich die Hände. »Hallo. Wo warst du denn? Ich …« Er unterbrach sich, als sie ihm die Arme um den Hals warf. Er griff nach dem Handtuch auf der Ablage, trocknete sich die Hände und schob sie dann sanft von sich. »Joss? Was ist los? Was ist passiert?«
»Nichts.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ich bin neurotisch, und meine Hormone spielen verrückt. Ganz normal – du weißt ja, was der Arzt gesagt hat.«
»Und du wirst es mich nicht vergessen lassen, Liebes.« Er führte sie zum Tisch und drückte sie in den Stuhl am Kopfende. »Also, jetzt erzähl mal.«
»Die Rose. Du hast eine Rose auf meinen Schreibtisch gelegt …« Ihre Stimme erstarb. »Das hast du doch, oder?«
Verwundert setzte Luke sich neben sie. »Ich habe draußen am Auto gearbeitet, Joss. Ich wollte noch etwas fertigmachen, bevor es zu dunkel wird. Das Licht in der Garage ist ziemlich schlecht, und außerdem ist es eiskalt. Lyn ist noch mit Tom unterwegs. Sie wollten Tannenzapfen holen, aber sie sollten jeden Augenblick zurückkommen, es sei denn, sie sind durch den Hof gegangen, ohne daß ich es gemerkt habe. Also, was ist mit dieser Rose?«
»Sie lag plötzlich auf dem Sekretär.«
»Und das hat dir angst gemacht? Du Esel, David wird sie dir hingelegt haben.«
»Wahrscheinlich.« Schuldbewußt zog sie die Nase hoch. »Ich dachte, ich hätte gehört, wie …« Sie brach ab. Sie hatte sagen wollen: »Wie jemand nach Georgie rief«, aber sie konnte die Worte noch rechtzeitig zurückhalten. Wenn sie das tatsächlich gehört hatte, dann wurde sie wirklich verrückt. Es war ihre Einbildung, die in dem stillen, düsteren Haus Blüten trieb.
»Wo ist denn diese Rose? Komm, wir holen sie.« Luke stand auf. »Und dann helfe ich dir, für unser Wunderkind das Abendbrot herzurichten. Er wird heute abend nicht ins Bett gehen wollen, bevor er sich nicht am Weihnachtsbaum satt gesehen hat.«
Das Feuer im Arbeitszimmer glimmte nur noch. Luke bückte sich, um ein paar Scheite nachzulegen, während Joss
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