Der Fluch von Colonsay
anderen Möglichkeiten in Betracht? Wollte sie einfach daran glauben? Es war fast schon dunkel gewesen, das Fenster schmutzig. Die Kleiderpuppe könnte sie mit einem Schattenspiel getäuscht haben. Sie war leicht zu beeinflussen …
Nein, ich bin nicht bereit, an einen Geist zu glauben, entschied sie schließlich. Trotzdem fragte sie Kerry beim Abendessen, ob Ada alte Familienfotos aufgehoben hätte.
»Sie hat einige der Staatsbibliothek vermacht, aber ich erinnere mich an ein altes schwarzes Album, dass Mrs Ada ab und zu herausgeholt hat.«
Jetzt erinnerte sich auch Rosamund an das große schwarze Buch, voll mit Bildern von Menschen in steifen, gestellten Posen. »Wo ist das denn abgeblieben?«
»Irgendwo im Haus. Ich muss nachsehen.« Kerry zögerte, und Rosamund spürte, dass sie kurz davor war, sie zu fragen, woher auf einmal ihr Interesse an der Familiengeschichte kam. Schließlich hatte sie sich früher nie dafür interessiert und war mit siebzehn abgehauen.
»Ich bin neugierig«, beantwortete sie die stumme Frage und zuckte mit den Schultern. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich dort je hineingesehen hätte.« Das kam der Wahrheit ziemlich nahe. Sie hatte zwar die Gesichter, die altmodische Kleidung und die Kulissen des Fotostudios betrachtet, aber nie die Menschen darin gesehen. Vielleicht würde sie ja das Gesicht dort entdecken, das Gesicht vom Fenster. Wenn sie einen Namen dazu hätte, das wäre doch ein Anfang.
Ein Anfang wovon?
»Ich will das nicht«, murmelte sie vor sich hin.
Kerry sah hoch und runzelte die Stirn. »Ich dachte, Sie hätten Hunger, Rosamund. Lassen Sie’s stehen, wenn es Ihnen zu viel ist.«
»Nein. Nein, das meinte ich nicht.«
Sie trank einen Schluck Wein. Er war süß. Zu süß, wie sie fand, aber das war ihr egal. Sie wusste aus Erfahrung, dass ein paar Gläser ihr das Hirn angenehm vernebeln würden.
»Fühlen Sie sich wohl, Rosamund? Sie kommen mir heute Abend so abwesend vor.«
»Abwesend?« Aha, das war neu. »Ich bin müde, das ist alles. Vom Unkrautjäten.« Sie riss sich zusammen. »Sobald ich damit fertig bin, entscheide ich, welche Büsche stehen bleiben sollen und welche rausmüssen. Ich erinnere mich, dass Ada von einer Gartenlaube erzählt hat, die zu Zeiten ihres Vaters dort gestanden hätte.«
Kerry öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, entschied sich dann aber anders. »Der Garten muss früher sehr schön gewesen sein«, sagte sie stattdessen. »Ich glaube, Adas Vater war sehr stolz darauf. Es gab befestigte Wege, verschiedene Springbrunnen und eine Laube. Und Blumen. Sogar das Haus war immer voll mit frischen Blumen, vor allem Rosen, weißen Rosen. Mrs Adas Mutter liebte sie. Soweit ich weiß, hat man ihren Sarg ganz mit weißen Rosen bedeckt.«
»Grundgütiger.« Rosamund fischte eine Zigarette aus ihrer Tasche und zündete sie an, Kerrys gequälten Gesichtsausdruck ignorierend.
Wenn sie sich recht erinnerte, hatte Ada Zeitungsausschnitte von der Beerdigung aufgehoben. Ob die immer noch existierten? Rosamund hatte das damals ziemlich morbide gefunden, aber Ada gehörte noch zu einer Generation, für die Todesfälle eine besondere Bedeutung hatten. Schwarz umrandete Trauerkarten, aufbewahrte Haarsträhnen vom Kopf des Toten, Jettschmuck, schwarze Spitzenschleier, benebelnde Gerüche …
Heutzutage wurde der Tod rasch und in aller Stille abgehandelt. Außer, er war mit einem Unfall oder Verbrechen verbunden. Dann gab es eine kurze Meldung in den Abendnachrichten, ansonsten blieb die Verabschiedung den nächsten Angehörigen überlassen. Beerdigungen erinnerten die meisten Menschen zu sehr an die eigene Sterblichkeit. Vielleicht war das Verhalten zu Adas Zeit natürlicher gewesen – der Tod als Anlass eines feierlichen Zusammentreffens.
Vom Rauchen wurde ihr wieder übel. Rosamund drückte die Zigarette aus, bis der Stummel nicht mehr qualmte, und schob den Aschenbecher angewidert beiseite. Sie erhob sich unter dem Protest ihrer schmerzenden Muskeln.
»Ich bin völlig fertig und gehe lieber ins Bett. Werden Sie allein mit dem Geschirr fertig?«
»Natürlich. Mr Markovic hat doch einen Geschirrspüler installieren lassen. Sehr rücksichtsvoll von ihm.«
»Ja, überaus rücksichtsvoll.«
Sie nahm die zweite Flasche Wein, ignorierte Kerrys prüfenden Blick und verließ die Küche. Die Stufen knarzten, aber Rosamund dachte nur an ihre knarzenden Gelenke.
In ihrem Zimmer war es noch warm von der Nachmittagssonne, obwohl sich
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