Der Fluch von Melaten
Trotzdem kam mir die Umgebung still vor. Als wäre der Friedhof ein Schwamm, der alle störenden Geräusche aufsaugte. Ich hatte auch keinen Blick für die Dinge, die hinter mir oder seitlich von uns geschahen, wichtig war allein Melaten, dessen breiter Eingangsbereich vor uns lag.
Justus Schmitz ging neben mir her. Er stand unter Spannung. Sein Blick irrte hin und her. Er hielt Ausschau nach irgendwelchen Feinden, die plötzlich erscheinen und angreifen könnten.
Das Areal lag im Sonnenlicht eines allmählich dem Ende zugehenden Nachmittags, aber die Sonne hatte noch einmal Kraft bekommen und die Temperaturen steigen lassen. Da erlebten wir im Oktober ein T-Shirt-Wetter.
Wir ließen den Eingang hinter uns, und mein Blick erfasste sofort die rechte Seite, wo eine mächtige Leichenhalle gebaut worden war. Jeder Mensch hat so seine Meinung. Eine Leichenhalle braucht nicht zu gefallen, aber diese hier war ein mächtiger Klinkerbau aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Unter einer hässlichen Betonbrücke, die wohl vor Regen schützen sollte, standen einige Bänke. Sie waren von älteren Menschen besetzt, die in die Sonne schauten und die warmen Tage genossen, nachdem sie die Gräber ihrer Verwandten besucht hatten. Eine Beerdigung wurde nicht vorbereitet, und so passierten wir die Leichenhalle und bewegten uns auf einen breiten Weg zu, schon fast eine Straße, die tief in den Friedhof hineinschnitt.
Neben mir ging Justus Schmitz her, und ich sah, dass er einige Male den Kopf schüttelte, aber keinen Kommentar abgab. Dafür fuhr er mit dem Handrücken mehrmals über seine Stirn, und ich hörte, wie er pfeifend die Luft ausstieß.
»Probleme, Justus?«
»Keine sichtbaren.«
»Aber...«
Er sah mich kurz an. »Ich spüre es, John. Verstehen Sie, ich spüre es einfach.«
»Was spüren Sie?«
»Die Nähe. Die verdammte Nähe. Ich erlebe es viel intensiver als in London. Ich merke genau, dass ich auf dem richtigen Weg bin, ob ich nun will oder nicht. Aber ich habe einmal in den Apfel gebissen und werde ihn auch essen, obwohl er bitter schmeckt.«
»Was genau spüren Sie?«
Schmitz blieb stehen, und auch ich hielt an. »Das will ich Ihnen sagen. Da ist etwas in meinem Kopf. Man kann von einem Summen sprechen oder wie auch immer. Ich kann mir vorstellen, dass es Stimmen sind. Oder eine Stimme?« Er hob seine Schultern und machte auf mich einen hilflosen Eindruck. »Aber ich weiß genau, dass ich hier richtig bin. Es ist so nahe, ich spüre es.«
»Wissen Sie, was noch alles dahinter steckt? Haben Sie eine konkrete Botschaft erhalten?«
»Nein.«
»Aber Sie wissen, wohin wir gehen müssen – oder? Ich meine, noch haben wir Zeit, es uns zu überlegen. Der Friedhof ist verdammt groß. Ich möchte nicht einfach darauf herumlaufen wie ein Spaziergänger, der sich verirrt hat. Sie wissen, was ich meine.«
»Ja, das ist mir schon klar. Und das suche ich auch.« Er drehte sich auf der Stelle und wirkte dabei wie jemand, der nach innen zu lauschen schien. Ich sah, wie er seine Lippen mit der Zungenspitze anfeuchtete und die Mittelachse hinabschaute, als er wieder auf der Stelle stand und sich nicht bewegte.
»Da müssen wir hin.«
»Hatte ich mir gedacht. Und dann?«
Er überlegte einige Sekunden lang. »Wenn wir dort weitergehen und dann an der großen Kreuzung, wo das Haus der toten Zigeunerin steht, abbiegen, gelangen wir dorthin, wo es damals die Hinrichtungsstätte gegeben hat. Dort wurden die Hexen verbrannt. Da hat man die Aussätzigen hingeschafft. Das war ein Ort des Teufels und die Hölle auf Erden, so ist es überliefert worden.«
»Sie kennen sich aus.«
Er winkte ab. »Nicht unbedingt, aber ich hatte mal einen Fall zu lösen, der mich hierher führte. Dabei ging es um Drogen. Jetzt wäre ich froh, wenn wir dieses Problem hätten. Das ist wenigstens etwas Handfestes. Aber was wollen Sie mit Geisterstimmen anfangen?«
»Wir werden sehen.«
Er fürchtete sich noch immer und wollte von mir wissen, ob ich auch an seiner Seite bleiben würde.
»Darauf können Sie sich verlassen, Justus. Aber jetzt lassen Sie uns gehen.«
Es blieb uns nichts anderes übrig, wenn wir dieses Phänomen aufklären wollten. Auch mich hielt mittlerweile die Spannung erfasst, aber auch die Neugierde, denn ich wollte endlich wissen, in welch einer Verbindung der deutsche Kollege mit dem Geist eines Toten stand.
Dieser Teil des Friedhofs gehörte der toten Kölner Prominenz. Ich sah prächtige Gräber zu beiden Seiten
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