Der Fluch von Melaten
verstehen zu können, wenn er sprach.
»Jetzt... jetzt... kenne ich sogar ihren Namen. Ja, es ist eine Frau«, sprach er schnell weiter.
»Und was ist es noch?« Sie musste einfach mehr gesagt haben, davon ging ich aus und hatte mich auch nicht getäuscht, denn ich sah, wie Justus Schmitz nickte.
»Nicht nur eine Frau. Auch ein Name. Ja, sie hat mir einen Namen gesagt...«
»Wie lautet er?«
Justus drehte sich herum und sah mich an. Unter seinen Schuhen knisterte bei dieser Bewegung das Laub, und dann sagte er etwas Überraschendes.
»Sie heißt Sibilla!« Er nickte. »Ja, sie heißt Sibilla. Das hat sie mir gesagt. Immer wieder nur Sibilla – Sibilla. Aber sie sagte noch mehr«, flüsterte er und schüttelte dabei den Kopf. »Es ist unglaublich... sie... sie ist frei und behauptet, dass sie meine Mutter ist!« Er schnappte nach Luft. »Meine Mutter!«, schrie er dann, »meine eigene Mutter...«
Danach brach er auf der Stelle zusammen!
***
Ernst Wienand starrte auf die Mauer der kleinen Kapelle. Er sah darin die Erscheinung. Ein Nebelstreif, der die Form eines menschlichen Körpers angenommen hatte. Aber das war nicht so wichtig, denn andere Dinge belasteten ihn stärker.
Er hatte einen Namen gehört. Marietta, und diese Marietta hatte behauptet, seine Mutter zu sein.
Wienand war nicht mehr in der Lage, normal zu denken. Was er hier gehört hatte, das war einfach nur irreal, so irreal wie die blasse Geisterscheinung. Es ging über sein Begriffsvermögen hinaus. Er fühlte sich verraten und zugleich verlassen.
Aber er schaute nach vorn, weil er irgendwie dazu gezwungen wurde. Die Kapelle war wichtig, denn daraus hatte er die Stimme vernommen, und in ihrem Gestein hatte sich die schwache Gestalt abgezeichnet, die kein Mensch mehr war, sondern ein Geist, und der hatte zu ihm gesprochen.
Ernst Wienand hätte sich am liebsten selbst in der Friedhofserde vergraben, um dem Grauen aus dem Weg zu gehen. Er empfand es wie einen kalten Stoß, der seinen Körper vom Kopf bis hin zu den Füßen erwischt hatte.
Er zitterte und stand trotzdem unbeweglich auf der Stelle. Sein Blick klebte an dem verdammten Gemäuer fest, in dem sich die blasse weiße Gestalt bewegte und im Laufe der Zeit immer dichter wurde und auch eine andere Körperform erhielt, denn er sah, dass sie sich zu einer Frau entwickelte und auch verdichtete. Unter dem langen Leichenhemd erhielt der Körper Formen, und es bildete sich sogar ein Kopf, der von blonden Haaren umgeben war. Er sah ein schmales Gesicht mit Augen, die einen stechenden Blick bekommen hatten, und er sah die Lippen, die zu einem breiten Grinsen verzogen waren.
Nein, das stimmte nicht. Ernst merkte den Schrei in seinem Innern. Das war einfach unmöglich. So konnte man nicht mit ihm reden. Dagegen musste man einfach vorgehen. Das wollte er auch nicht akzeptieren. Sie... sie... konnte nicht seine Mutter sein. Seine Mutter war zwar tot, aber sie hatte anders ausgesehen. Seit zwei Jahren lag sie unter der Erde, und sie war auch schon sehr alt gewesen. Außerdem hatte sie nicht Marietta geheißen. Wieso konnte dieses schemenhafte Wesen dann behaupten, seine Mutter zu sein?
Ernst wollte schreien und der Gestalt klar machen, dass sie log, doch es blieb beim Vorsatz, denn er war einfach nicht in der Lage, ihn in die Tat umzusetzen. Jemand hatte sich seiner Stimme bemächtigt. Der Wille war vorhanden, mehr allerdings nicht, und er hörte sich dann aufheulen und merkte, wie er automatisch den Kopf schüttelte.
»Du bist nicht meine Mutter!«, flüsterte er der Gestalt entgegen. »Du kannst es nicht sein...«
»Doch, ich bin deine Mutter. Ich habe lange gewartet. Ich und meine Freundinnen.«
Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er zwei weitere Bewegungen innerhalb der Kapellenmauer sah.
Wieder erschienen die hellen Schemen und bewegten sich schwankend von einer Seite zur anderen, als wollten sie einen Tanz vorführen, der ihre Macht beweisen sollte.
Die beiden Gestalten waren nicht so deutlich zu sehen wie Marietta. Sie befanden sich noch in einem Zustand des Werdens, aber sie würden bald so aussehen wie normale Geisterfrauen und damit seiner so genannten Mutter ähneln, die auch nicht Marietta geheißen hatte, sondern Brigitte.
Marietta tanzte noch für einen Moment innerhalb des Mauerwerks, das für sie kein Hindernis bildete, dann sah es so aus, als würde sie sich einen letzten Schwung geben, der sie nach vorn brachte, und dann war sie plötzlich da.
Sie verließ die
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