Der Fluch von Melaten
Geisterfrau?
Ich hütete mich davor, auf die Gestalt zuzugehen, und wartete die nächsten Sekunden ab. Sie kamen mir ebenso lang vor wie die zurückliegenden. Ich vergaß dabei meine Umgebung und konzentrierte mich einzig und allein auf die Person.
Das Kreuz steckte in meiner rechten Tasche. Den Arm bewegte ich nicht, denn ich hütete mich davor, das Kreuz zu berühren. Wienand hätte die Bewegung falsch verstehen können. Aber ich zog mich auch nicht zurück, sondern wartete darauf, was passieren würde. Dass etwas geschah, stand für mich fest. Das musste einfach so sein.
Plötzlich veränderte sich etwas bei ihm. Ernst Wienand hatte bisher so ausgesehen wie ein normaler Mensch, wenn auch in einer ungewöhnlichen Lage.
Aber dieser Mensch erlebte die Veränderung von innen. Es hatte sich etwas in ihm festgesetzt und ihn übernommen. Bisher hatte er es verstanden, es zu verbergen. Jetzt aber drängte es nach vorn, und damit kam auch die Veränderung.
Von innen breitete sich ein Licht aus. Das zumindest kam mir so vor. Es war mehr eine fahle Helligkeit, die seinen Unterkörper zuerst übernahm und an den Beinen hochkroch, sich tatsächlich aber nicht außen, sondern in Wienand’s Innerem befand.
Dabei spielte keine Rolle, dass er bekleidet war. Das bleiche Licht ließ sich durch nichts aufhalten, und nicht erst jetzt stellte ich fest, dass es mir bekannt vorkam.
Ja, ich kannte es.
Ich hatte es bei den drei Geisterfrauen gesehen. Eine steckte in diesem Körper und übernahm ihn ganz, denn die Blässe glitt hoch bis zur Brust, danach weiter, erreichte den Hals und schließlich das Gesicht. Es war ein lautloser und auch unheimlicher Vorgang, den ich erlebte und an seinem Ende noch überrascht wurde.
Mein Blick fiel in Wienand’s Gesicht. Aber das war nicht alles, denn zu seinem Gesicht gesellte sich noch ein zweites, das allerdings diesen Namen nicht verdiente, weil es nicht feinstofflich war. Ich sah es zunächst als blassen Umriss, aber das blieb nicht so, denn der Umriss erhielt Konturen. Es bildete sich etwas bei ihm hervor, und unter meinen staunenden Blicken entstand das Gesicht einer blonden Frau, die ich schon vom Friedhof her kannte.
In der letzten Zeit hatten mich einige Adrenalinstöße erwischt, so dass die Folgen des Niederschlags für mich zweitrangig geworden waren oder kaum noch existierten.
Ich ging jetzt davon aus, dass man auf mich gewartet hatte und mir die andere Person etwas mitteilen wollte. Eine Botschaft aus ihrem Toten- oder Zwischenreich.
Es gab die beiden Gesichter, die sich übereinander geschoben hatten. Aber trotzdem existierte eine Trennung, so dass ich beide relativ gut erkannte. Zum einen waren es die Züge des Ernst Wienand. Sie waren mehr in den Hintergrund getreten. Auf mich wirkten sie starr und sehr steinern, als wäre ihm die Seele genommen worden.
Nicht so bei dem Gesicht der geisterhaften Hebamme. Es lebte, es bewegte sich, und es konnte sein, dass ich sogar ein Lächeln auf den Lippen erkannte.
Wenn, dann war es nur das Lächeln einer Siegerin, und das brauchte nicht unbedingt freundlich zu sein. In mir entstand der Wunsch, die Person anzusprechen, nur war mir nicht klar, welchen Namen ich dabei sagen sollte. Aus einer Person waren zwei geworden oder aus zwei eine. Wie ich es auch drehte und wendete, das Rätsel blieb. Ich brauchte mir darüber keine Gedanken mehr zu machen, denn es war die andere Seite, die mich ansprach, und zwar nicht Ernst Wienand.
In meinem Kopf entstand die Stimme. Sie bestand zunächst mehr aus einem Geräusch, das durch einen dünnen Kanal in meinen Kopf hineingefahren war und einen normalen Menschen, der mit diesen Dingen nichts am Hut hatte, sicherlich tief erschreckt hätte. Bei mir war das nicht der Fall, denn ich erlebte diese Art von Kontaktaufnahme nicht zum ersten Mal. Schon öfter war ich damit konfrontiert worden. Es war immer wieder faszinierend für mich, dass so etwas möglich war. Ich nahm an, dass mein Kreuz dabei den Katalysator spielte.
Das schrille Geräusch hallte durch meinen Kopf, und ich war nicht in der Lage, die Botschaft zu verstehen. Es konnte auch sein, dass es sich zunächst noch sammeln musste, um die entsprechenden Worte zu finden, die mich dann sehr bald trafen.
»Wer bist du?«
Es war gut gewesen, dass ich mich völlig auf dieses schrille Singen konzentriert hatte. So war ich in der Lage, die Stimme zu verstehen und auch eine Antwort zu geben.
»Ich heiße John Sinclair...«
Nach diesen Worten war die
Weitere Kostenlose Bücher