Der Fluch von Melaten
schleiften meine Sohlen über einen Teppichboden. Trotz der Enge war das Zimmer breit genug, um nirgendwo anzustoßen. Wenig später blieb ich stehen, wobei über meine Lippen ein Lächeln huschte, denn ich hatte etwas gesehen.
Die Balkontür war zwar geschlossen, aber sie war nur zugezogen worden, und das von außen.
Mein Herz klopfte schneller. Diese Tatsache ließ nur einen Schluss zu. Jemand hatte den Balkon betreten und hielt sich auch jetzt noch darauf auf. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in die Tiefe gesprungen war. Für mich kam nur Ernst Wienand in Frage, der Mann mit dem dunklen Oberlippenbart.
Das Kreuz ließ ich weiterhin griffbereit in der Tasche stecken. Ich wollte Wienand zunächst mit leeren Händen gegenübertreten, um ihn nicht zu verscheuchen.
Vom Zimmer aus sah ich ihn nicht, als ich mein Gesicht dicht vor die Scheibe gebracht hatte. Zwar gehörte der Balkon zur Wohnung, aber er passte von den Ausmaßen her nicht. Für meinen Geschmack war er zu lang, denn er zog sich noch in der Höhe des Wohnzimmerfensters vorbei, und diese Stelle war von meinem Platz aus nicht einsehbar.
Ich machte mich daran, die Tür zu öffnen. Ob man mich schon entdeckt hatte, spielte jetzt keine Rolle mehr. Aber ich blieb trotzdem bei meinen Aktivitäten so lautlos wie möglich und ging auch sehr vorsichtig ans Werk.
Es passte mir, dass sich die Tür recht leise öffnen ließ. Die recht warme Abendluft fächerte gegen mein Gesicht. In dieser achten Etage war der Wind deutlicher zu spüren, und der Blick über Köln war von dieser Stelle aus sehr gut. Sogar die Türme des weltberühmten Doms sah ich. Sie wurden angestrahlt und überragten den Bereich City, Rhein und Bahnhof.
Ernst Wienand fiel mir nicht auf. Das hatte nichts zu bedeuten, denn es war mir noch nicht gelungen, die gesamte Breite des Balkons zu überblicken.
Auch Köln ist eine Stadt, die kaum zur Ruhe kommt. An einem Abend wie dem heutigen erst recht nicht. Von der Straße her hallte das Gebrumm aus Stimmen und Verkehrsgeräuschen zu mir hoch wie eine Musik, die erst tief in der Nacht abriss.
Das Geländer bestand aus Metall. Es war mit Blumenkästen dekoriert worden. Die roten Geranien sollten dem Betrachter Freude bringen, sie leuchteten sogar noch zu dieser Zeit.
Ich ging einen Schritt auf den Balkon, drehte mich nach links – und sah ihn.
Wienand war da. Aber er hielt sich nicht normal auf dem Balkon auf, sondern auf dem Geländer und starrte mich von dort aus an...
***
Mein Rücken verwandelte sich in eine eisige Landschaft. Für einen Moment verkrampfte ich mich, weil ich davon ausging, dass sich der Mann mit dem Oberlippenbart nach hinten drückte und dann einfach in die Tiefe stürzte, ohne dass ich ihn hätte retten können, weil die Distanz zwischen uns einfach zu groß war.
Es passierte nicht.
Er stand da. Seine Kleidung wurde von den Windstößen bewegt, und er blieb auch weiterhin stehen. Wie ein Künstler, bei dem das Balancieren und Stehen auf dem Drahtseil zu den täglichen Aufgaben zählt.
Ich hatte meinen Schreck recht schnell überwunden. Ob das bei Wienand auch der Fall war, konnte ich nicht sagen, denn er bewegte sich nicht, und bei meinem Erscheinen hatte ich nicht mal ein Zucken an seiner Gestalt gesehen.
Er war ein Mensch. Er sah normal aus. Aber er war nicht normal. Abgesehen davon, dass er auf dem Rand der Brüstung stand, erinnerte ich mich daran, wie auf dem Friedhof die blonde Geistergestalt in ihn hineingefahren war, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie den Gastkörper noch nicht wieder verlassen hatte. Streng genommen hatte ich es bei ihm mit zwei Wesen zu tun, obwohl ich davon nur eines zu Gesicht bekam. Das zweite Wesen hatte ihn übernommen und zugleich stark gemacht, so dass er auf dem Geländer stand, ohne das Risiko einzugehen, in die Tiefe zu stürzen.
Aber warum blieb er stehen? Warum war er nicht verschwunden? Es gab für mich nur eine Antwort. Er hatte auf mein Auftauchen gewartet. Er hatte Bescheid gewusst. Er hatte uns möglicherweise auf der Herfahrt beobachtet und daraus seine Konsequenzen gezogen. Und er würde uns beweisen wollen, wie stark er war.
Es war zwischen uns noch kein Wort gesprochen worden. Trotzdem merkte ich, dass es ein Band gab, das uns gemeinsam berührte, denn ich erlebte eine Kontaktaufnahme der besonderen Art. Etwas suchte nach mir. Es war keine Stimme, aber es war eine Botschaft, die meinen Kopf erreichte, um mir etwas mitzuteilen.
War es Wienand oder die
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