Der Fluch
Tagelang konnte ich meine Beobachtungen nicht fortsetzen. Der Regen hat mich gezwungen, die Zeit in meinem Zelt zu verbringen, das sich als praktisch und bequem erweist. Ich arbeite weiter an meiner Karte, komme jedoch nur langsam voran. Jede neue Messung bringt andere Ergebnisse.
Shanusk hat mir nicht den Namen des Sees verraten und mangels der richtigen Bezeichnung nenne ich ihn vorerst Lake Solomon , nach meinem indianischen Führer, während ich den Wald Solomon National Forest getauft habe.
Dead Valley, 07. September 1908
Heute gegen Abend haben sich die Wolken endlich aufgelöst und der Himmel war so klar, wie ich ihn noch nie hier oben gesehen habe. Es war die Zeit des Sonnenuntergangs. Und dann geschah etwas Unglaubliches. Es lässt sich kaum in Worte fassen. Die leuchtende Fläche der Sonne spiegelte sich im See und es schien, als ob ihr Mittelpunkt mit dem Mittelpunkt des Sees verschmolz. Es dauerte nur wenige Sekunden. Aber diesen Moment werde ich nie vergessen. Eine leuchtend rote Linie zeigte sich am Himmel und schien die beiden Mittelpunkte zu verbinden.
Den ganzen Abend war ich damit beschäftigt, eine Zeichnung anzufertigen. Das Ergebnis sind zwei konzentrische Kreise, die übereinanderschweben.
Dead Valley, 10. September 1908
Die seltsamen Phänomene beschäftigen mich Tag und Nacht. Und jeder Tag bringt neue Eindrücke und Erkenntnisse, die unerklärlich bleiben. Ich bin nur der Chronist. Doch angesichts der Merkwürdigkeiten, die mir hier Tag für Tag begegnen, bin ich geneigt, Solomon Shanusk recht zu geben. Vielleicht enthalten die Sagen und Legenden der Ureinwohner dieses Landes viel mehr Wahrheiten, als wir uns mit unserem durch die neueren Erkenntnisse der Wissenschaften geprägten Verstand vorstellen können. Vielleicht sind es nicht nur Geschichten, sondern uralte Erinnerungen, die in ihrem Volk von Generation zu Generation weitervererbt werden.
Dead Valley, 21. September 1908
Inzwischen werden die Tage und Nächte kälter. Ich bin jetzt seit fast sechs Wochen hier oben und habe noch immer keine Sehnsucht, zu den Menschen zurückzukehren. Meine Vorräte werden knapper. Ich habe beschlossen, sie einzuteilen und mich weitgehend von dem zu ernähren, was das Tal bietet.
Dead Valley, 28. September 1908
Ein Tag vergeht nach dem anderen, ohne dass etwas geschieht. Verbringe die Zeit mit Schwimmen im See und dem Überarbeiten meiner Aufzeichnungen.
Dead Valley, 30. September 1908
Als ich heute Morgen erwachte, sah ich einen Schatten vor meinem Zelt. Ich griff sofort nach dem Gewehr, das immer neben mir liegt. Der Schatten bewegte sich. Langsam kroch ich nach vorne, das Gewehr im Anschlag. Meine Hand griff nach der Zeltplane und schlug sie zur Seite.
Ein schwarzer Hund lag friedlich am Rande des Plateaus und schaute mich an mit Augen, die wie schwarze Perlen glänzten.
Als ich aus dem Zelt kroch und vor ihm stand, gab er zunächst ein dumpfes Winseln von sich, dann ein leises Bellen. Schließlich suchte er sich den Abhang hinunter einen Weg zum See.
Ich folgte ihm.
10. Rose
Die nächsten Tage vergehen, ohne dass etwas geschieht. Eigentlich sollte ich froh darüber sein, aber das Gegenteil ist der Fall.
Das Tal hat sich für mich verändert. Normalerweise geben mir die schneebedeckten Berge, die uns von allen Seiten umschließen, ein Gefühl von Sicherheit. Und die Schönheit der Natur, die sich jetzt im Mai mit aller Macht ihre Bahn bricht, ist für mich ein Faustpfand für das Gute im Leben. Aber jetzt spüre ich, welche Spannung in all der Schönheit liegt. Ich wünsche mir brennend, es möge irgendetwas passieren und diese trügerische Stille durchbrechen. Ein lauter Knall, ein Donnerschlag, eine Explosion.
Die Nächte sind das Schlimmste. Wieder und wieder werde ich von demselben Albtraum gequält. Es ist Spätsommer. Ich bin völlig allein in diesem Tal. Nein – nicht allein. Ike ist bei mir – oder ist es nicht Ike, sondern irgendein anderer Hund? Das Collegegebäude ist verschwunden und ich wohne in einer Hütte im Schatten des Ghost. Eine seltsame Stimmung liegt über allem. Es ist weniger die Einsamkeit, die mich quält, sondern das Gefühl, allein zu sein, völlig abgeschieden in diesem Tal. Das ich nicht verlassen kann – und – auch nicht will.
Und genau dieses seltsame Gefühl der absoluten Isolation verschwindet auch nicht an diesem Freitagmorgen. Um mich herum hat sich ein Netz aus Unsicherheit und Angst gesponnen und ich habe keine Ahnung, wie ich mich daraus
Weitere Kostenlose Bücher