Der Fluch
wieder das Geräusch von Schritten, die jetzt abrupt vor der Badezimmertür stoppen. Schnell wickle ich das Handtuch um mich.
»Katie?«
Ich erhalte keine Antwort.
»Katie, bist du das?« Ich warte einige Sekunden. »Ich bin gleich fertig, wenn du ins Badezimmer willst.«
Wieder antwortet mir die Stille. Eine Stille, die unnatürlich ist. Fast kommt es mir vor, als ob derjenige draußen das Ohr an die Tür legt.
Ich horche angestrengt, doch da ist nur mein eigener, ziemlich lauter Atem.
Plötzlich muss ich an Sam Ivy und Ian O’Connor denken. Eine Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper, als ich wieder die Szene in der Bar vor mir sehe. Sams Drohung ist mir deutlicher im Gedächtnis, als mir lieb ist.
Ach, Unsinn. Was sollte Sam hier wollen? Oder Ian?
Da draußen ist Katie, wer sonst. Schließlich wohne ich nicht allein hier.
Aber trotzdem, ein ungutes Gefühl bleibt.
Rasch trockne ich mich ab und streife die Unterwäsche über.
Der Wasserhahn tropft, wie Wasserhähne immer tropfen in solchen Momenten. Quälend laut.
Jetzt noch der Rollkragenpullover und die Jeans. Okay, fertig. Entschieden öffne ich die Tür: »Hallo?«
Keine Antwort. Keine Bewegung.
»Ist da jemand?«
Wie zuvor liegt auch jetzt das Schweigen über dem Apartment.
Von Katie nichts zu sehen.
Habe ich mich getäuscht?
Wieder lausche ich. Nichts.
Ich betrete mein Zimmer.
Und ich sehe es sofort.
Die Tagesdecke über meinem Bett ist nicht länger glatt gezogen, sondern zurückgeschlagen. Das Kissen ist eingedrückt, als hätte jemand dort geschlafen. Die Paul-Morrison-Biografie liegt mit dem Rücken nach oben aufgeschlagen auf der Decke. Und darauf ein weißes unliniertes Papier, wie es für Computerausdrucke verwendet wird.
Es sind nicht viele Worte, aber ihre Bedeutung ist umso größer. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Dunkle, unwillkommene Erinnerungsfetzen bombardieren mein Bewusstsein.
Ein Schluchzen dringt meine Kehle hoch. Ich sinke auf den Fußboden, ziehe die Beine eng an die Brust und lasse den Tränen freien Lauf.
Diese Nachricht habe ich zum ersten Mal im Krankenhaus erhalten. Und Mom war auch diesmal nicht da, um meine Post zu kontrollieren.
11. Rose
Boston. Zwei Jahre zuvor
Es war ein heißer Tag. Die Sonne brannte durch die hohen Fenster des Zimmers im Massachusetts General Hospital. Alles, was ich noch fühlen konnte, war tiefe Leere, die, so kam es mir vor, mich nie wieder verlassen würde. Und mit Post hatte ich zuallerletzt gerechnet. Außer meinen Eltern wusste niemand, dass ich hier war, und schon gar nicht, warum.
Alle Krankenschwestern trugen Namensschilder, auf denen nur der Vorname zu lesen war. Die Krankenschwester, die mir den Brief aushändigte, hieß Marilyn. Nein, sie war nicht blond, sondern schwarzhaarig, und die echte Marilyn hätte sich bei dieser Figur vermutlich schon früher umgebracht. Wenn sie sich überhaupt umgebracht hatte. Marilyn, die Krankenschwester, wog mindestens neunzig Kilo bei einer Größe von einem Meter achtundfünfzig. Und sie ließ jeden wissen, dass sie dieses Gewicht in die Waagschale werfen würde, wenn man ihren Anweisungen zuwiderhandelte. Aber sie war mir noch lieber als die anderen, die vor Mitleid nur so zerflossen.
Sie kam also ins Zimmer, eine riesige Tasse Tee und eine Art Sandwich auf dem Tablett.
»Post für dich, Rose.« Sie wedelte mehrfach mit dem Brief in der Luft herum.
Ich starrte durch sie hindurch.
Ich wollte, dass sie einfach nur ging, mitsamt ihrem Sandwich und dem Brief.
Aber den Gefallen tat sie mir nicht. »Wenn du mindestens die Hälfte isst, dann bekommst du auch den Brief, Schätzchen.« Sie ließ ihre neunzig Kilos auf meine Bettkante fallen und stellte das Tablett direkt vor meine Nase. »Und dann, dann lass ich dich auch wieder allein Trübsal blasen. Versprochen.«
Ich schloss meine Augen und öffnete sie wieder. Ich stand unter Beruhigungsmitteln und vielleicht lag es daran, dass ich dachte, der Brief wäre von ihm. Von Matt, der der eigentliche Grund für all das hier war.
Und trotz aller Leere, die in mir herrschte, wollte ich diesen Brief plötzlich lesen, wollte es dringender als sonst irgendetwas.
Jedenfalls aß ich. Das labbrige Brötchen mit der fetten Salami, den Bohnensalat, der so trocken war, dass ich dachte, ich schlucke irgendwelche Kapseln, und den wässrigen Joghurt. Anschließend war mir total übel. Aber ich hatte es geschafft, wenigstens ein paar Bissen herunterzubringen. Marilyn betrachtete
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