Der Fluch
lassen.
Ich habe jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren.
Ich weiß nicht, wie lange ich ausharre in dieser modrigen Stille.
Irgendwann wird mir bewusst, dass ich die Hand einer Toten halte, und lasse sie los. Und die Übelkeit wird übermächtig, als ich begreife, dass sie von dem süßlichen Geruch des Blutes kommt, das neben mir in den Boden sickert.
Das Blut der toten Muriel riecht anders als das der Lebenden.
So riecht also der Tod. So klingt er. So schwer, so verzweifelt ist der Kampf um den letzten Rest von Leben, das man nicht aufgeben will.
War es auch so bei Sally? Alle haben mir versichert, dass sie nicht leiden musste, aber wie können sie so sicher sein? Wie können sie es wissen?
»Es tut mir so leid, Muriel«, flüstere ich immer wieder. »Es tut mir schrecklich leid.«
Noch einmal greife ich nach ihrer Hand und drücke die eiskalten Finger. Aber nichts, wirklich nichts kann sie zurückholen.
Habe ich ihr Trost geben können in den letzten Minuten? Ich glaube nicht. Was sagt man jemandem, der in eine andere Welt geht? Die Welt, vor der wir uns alle fürchten? Welche Worte, Sätze, Botschaften gibt man ihm mit auf seinem Weg ins Jenseits?
Keine.
Mir sind jedenfalls keine eingefallen.
Ich kann nicht länger hier sitzen bleiben. Ich muss mich der Wahrheit stellen und habe doch keine Ahnung, was der nächste Schritt sein könnte. Mich überfällt die Panik und ich nehme die dumpfe Enge des Loches wahr, fühle mich wie eingemauert.
Mit einem Ruck stehe ich auf, meine Beine sind längst eingeschlafen, aber ich achte nicht darauf. Ich starre durch den Schacht nach oben, wo der Wind die Dunkelheit durch das Loch im Dach der Hütte jagt.
Es sind über zwei Meter, die mich von dem Hüttenboden trennen, und noch immer habe ich keine Ahnung, wie ich hier rauskommen soll.
Ich drücke eine Taste des Handys und suche in seinem schwachen Licht nach irgendeinem Hilfsmittel, doch alles, was ich finde, ist ein großer Stein, der unterhalb von Muriels Füßen liegt.
Mit angehaltenem Atem gehe ich in die Knie und zwänge mich zwischen dem Körper der toten Muriel und der Felswand nach hinten, versuche, sie von mir wegzuschieben, um Platz zu schaffen. Es ist mit das Schlimmste, was ich je tun musste.
Der Stein fühlt sich nass und glitschig an und er steckt fest im Erdreich. Wie wild grabe ich mit beiden Händen, wühle in der Erde, mein Atem geht keuchend.
Ich muss hier raus, nur raus, sonst verliere ich den Verstand. Endlich gibt der Boden den Stein frei. Doch er ist zu schwer, um ihn zu heben. Zentimeter für Zentimeter schiebe ich ihn mit den Füßen vorwärts, bis er seitlich von Muriels Brustkorb zum Liegen kommt.
Seine Höhe mag gerade mal zwanzig Zentimeter betragen, aber er ist meine einzige Chance. Wenigstens kann ich sicher auf ihm stehen.
Immer wieder setze ich zum Sprung an. Doch erst beim fünften Versuch gelingt es mir, den Rand des Schachtes mit den Fingerspitzen zu erreichen. Sekundenlang baumele ich in der Luft. Meine Füße tasten sich die Felswand entlang, bis ich einen Spalt spüre und endlich Halt finde.
Ich ziehe mich nach oben, Zentimeter für Zentimeter. Einmal rutsche ich ab und rechne schon damit, wieder auf den Boden zu stürzen, aber dann ertastet mein Fuß einen Vorsprung, fast eine Art Stufe, und die rettet mich. Von hier aus schaffe ich es, mich ganz nach oben zu schieben. Irgendwann taucht mein Kopf über dem Rand auf, dann der Oberkörper und endlich bin ich draußen. Ich stolpere aus der Hütte, so schnell es geht. Draußen lasse ich mich in das nasse Gras fallen, wo ich minutenlang erschöpft liegen bleibe. Ich keuche und die dumpfen Schläge meines Herzens dröhnen in meinen Ohren.
Und wieder und wieder hallt das nach, was Muriel mir anvertraut hat, bevor sie starb.
Es war nur ein Wort.
Nein, kein Wort.
Ein Name.
Der Name, den ich am wenigsten hören will.
Jayden.
19. Rose
Boston, zwei Jahre zuvor
J. F. musste mich festhalten, damit ich nicht hinfiel. Ich hätte nie so viel trinken dürfen. Ich war Alkohol nicht gewohnt, schon gar nicht so harte Sachen. Mein Kopf funktionierte wie ein Karussell. Einmal in Gang gesetzt, drehte es sich unaufhörlich. Und jeder Umdrehung folgte eine Welle der Übelkeit.
»Was war … ich meine … was in dem Bourbon war«, murmelte ich.
»Bourbon.« J. F. lachte und öffnete die Tür zum Gartenhaus. Die Hütte war leer bis auf einen rot-weiß gestreiften Rettungsring und eine Gruppe von weißen, hochglänzenden
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